Inhalt der Printausgabe
Februar 2006
Humorkritik (Seite 6 von 8) |
Schlag nach bei Dickens |
Als heutiger, in Angelegenheiten der Komik durchbildeter Leser wird man sich über Charles Dickens’ »Oliver Twist« wohl nicht mehr ausschütten vor Lachen; vergnüglich (die Vokabel muß an dieser Stelle einfach sein) ist die Lektüre dieses (anti-)bürgerlichen Romanklassikers, zu der mich R. Polanskis kurrente Neuverfilmung anregte, aber allemal; wie auch stets erhellend: »Die Herren Vorstandsmitglieder waren äußerst kluge Männer von tiefer philosophischer Einsicht, und kaum hatten sie ihre Tätigkeit dem Arbeitshause und was damit zusammenhing zugewendet, so fanden sie auch sofort heraus, was ein gewöhnlicher Sterblicher kaum jemals entdeckt hätte, nämlich: daß es darin den Armen ganz über Gebühr gut gehe. Als wäre das Arbeitshaus nichts als ein öffentliches Vergnügungslokal für die ärmsten Klassen, eine Kneipe, in der man nichts zu bezahlen brauche, ein Ort, an dem man auf Kosten der Gemeinde Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot einnehmen könne – ein Elysium aus Ziegelsteinen und Mörtel, in dem gescherzt und gespielt, in Wirklichkeit aber nicht gearbeitet würde … Und so ordneten sie denn an, daß alle armen Leute die Wahl haben sollten – von Zwang könne natürlich keine Rede sein –, entweder langsam und nach und nach im Arbeitshaus zu verhungern, oder schnell und plötzlich außerhalb« – und immerhin dafür sind unsere vorstandsdominierten 1-Euro-Job-Verhältnisse gut: Dickens eine astreine Aktualität zu verschaffen. Und wer immer also über menschliche Niedertracht und ihre sozialen Bedingungen belletristisch informiert zu werden wünscht, der greife getrost zum 170 Jahre alten Standardwerk (z.B. in der lustig verschrobenen Alt-Übersetzung von Gustav Meyrink) und lasse zeitgenössischen Kritikkitsch à la Sibylle Berg bitte im gut-sortierten Buchhandel.
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