Humorkritik | Januar 2021

Januar 2021

Keine Sache ist wirklich ernst zu nehmen, nur der lebende Mensch ist es.
Hermann Keyserling

»Nebi« am Ende

Trauriges über die satirische Schweiz schreibt mir aus Winterthur der Cartoonist Ruedi Widmer:

»Der Nebelspalter gilt immer noch als so etwas wie ein Nationalheiligtum der Schweiz. Nun wird das Humorblatt von einer Investorengruppe übernommen, deren Kopf der Journalist Markus Somm ist. Für die Karikaturistinnen und Karikaturisten eine Hiobsbotschaft. Denn das ist so, als wenn Ken Jebsen TITANIC übernähme.

Somm wurde unter Roger Köppel bei der vor zwanzig Jahren ebenfalls von rechtsbürgerlichen Investoren übernommenen, einst linksliberalen Weltwoche groß und versuchte in den Zehnerjahren vergeblich, die Basler Zeitung, die SVP-Chef Christoph Blocher gekauft hatte, in eine rechte nationale Tageszeitung umzubauen. In der Folge verstärkten dieselben Gesichter ihren Einfluss bei der Neuen Zürcher Zeitung. Allen diesen Zeitungen ist gemein, dass ihre Auflage, kaum waren sie im rechten Besitz, stärker abnahm als jene der übrigen Schweizer Zeitungen. Trotz dieser Verlustgeschäfte haben Blochers Leute anscheinend endlos volle Kassen.

Der Nebelspalter, gegründet 1875 und am ehesten mit dem Eulenspiegel vergleichbar, hatte viele Hochs und Tiefs. In der Nazizeit sorgte er regelmäßig für diplomatische Verstimmungen zwischen Bern und Berlin, und nicht nur Hitler, sondern auch der Schweizer Bundesrat hätte die kleine Redaktion aus Rorschach am Bodensee am liebsten sofort beschossen bzw. geschlossen. Damals war der Satiriker und Cartoonist Carl ›Bö‹ Böckli Chefredaktor, der zweite Ehemann meiner Urgroßmutter. In der Nachkriegszeit wurde das Blatt behäbiger. Die Auflage war sehr groß (um 70 000), und bis in die achtziger Jahre gab es kein Arztwartezimmer im Land, in dem der ›Nebi‹ nicht auslag. So erklärt sich auch der Umstand, dass die Zeitung nie irgendwie links war, sondern konfessionslos, schweizerisch auf Ausgleich bedacht und entsprechend bieder; schon sehr früh auch umweltbesorgt, aber alles im sagbaren Rahmen. In den neunziger Jahren versuchte Iwan Raschle, die sinkende Bedeutung zu stoppen und einen aggressiveren, deutlich an die TITANIC angelehnten Kurs zu fahren, was eine große Abokündigungswelle auslöste. Die empörten Leserbriefe wurden damals auch mal in der TITANIC abgedruckt (siehe 03/1997). Nach Besitzerwechseln beruhigte sich das Blatt und wurde in den letzten Jahren von Marco Ratschiller mit beschränktem Budget und einem großen Pool freier Mitarbeitender durchaus erfolgreich geführt, auch mit zunehmender satirischer Schärfe, wurde zur Heimstatt zahlreicher jüngerer Cartoonistinnen und Cartoonisten, blieb aber ein Nischenprodukt ohne den einstigen publizistischen Einfluss (Auflage: 20 000). Viel Satire war in die Tageszeitungen, ins Fernsehen und ins Internet abgewandert. Und die Humorschweiz las schon immer auch über die Grenzen hinweg, Le Canard enchaîné, Charlie Hebdo und TITANIC.

Gemäß Somms Plan soll die Nebelspalter-Einmannredaktion auf 15 Personen vergrößert werden. Rechte Humorschreiber, die auch mal eine Corona-Demo rocken können, gibt es immerhin zwei in der Schweiz, Andreas Thiel und den Kabarettisten Marco Rima; ein bis zwei sexistische ältere Karikaturisten lassen sich von Regionalzeitungen auftreiben. Advertorials werden ein zentrales Element sein. Unter den Satire-Investoren sind schließlich mehrere Privatbankiers, Multimilliardäre und Autoimporteure.«

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Mal wieder typisch, Bundespolizei!

Du testest gerade den Einsatz von Tasern, hast Dir in einem vertraulichen Bericht aber eingestehen müssen, dass diese ihre Mannstoppwirkung oder gleich das ganze Ziel gerne mal verfehlen. Ein Grund für das Versagen der Taser ist wohl: eine »offene Softshell-Jacke«. Und das ist ja mal wieder typisch! Wer muss sich um Polizeigewalt in Taserform also keine Sorgen machen? Gutsituierte Krautwurst-Teutonen in ihren ewigen Softshell-Jacken! Komm, Bundespolizei, Rassismus kannst Du doch auch weniger auffällig, weiß aus anders gekleideter Quelle

Deine Titanic

 Und aber apropos, brigitte.de!

»Diese Angewohnheit schadet deinem Gehirn mehr, als du denkst« – eigentlich ist uns das als Vorlage zu billig. Aber schwer fällt uns der Verzicht schon!

Gewohnheitsmäßig nicht Deine Titanic

 Bei Dir, »O₂ Surftown MUC«,

handelt es sich um eine künstliche stehende Welle im tiefsten Bayern. Und es ist natürlich nur recht und fair, dass Bayern als Bundesland mit Alpenzugang nun Strandsport anbieten kann, nachdem ja auch durch Skihallen in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen beide Meere mit Deutschlandzugang längst mit Bergsportnähe ausgestattet sind.

Wie viel Energie es kostet, das Wasser für die Wellen und den Schnee jeweils auf die richtige Temperatur und in die entsprechenden Formen zu bringen, ist dabei auch egal, denn letztlich ist die ganze Angelegenheit ja klimafreundlich as fuck: Braucht doch jetzt niemand mehr quer durch Deutschland zu reisen, um einem für die Umgebung untypischen Angeberhobby nachzugehen.

Zur Eindämmung weiterer Kurz- und Fernreisen sind daher sicherlich auch schon die nächsten Naturerlebniswelten in Planung! Wir denken da etwa an die »Saharaworld Schwarzwald«, das »Urwalderlebnis Wattenland«, »Wildwasserkajaktouren am Ku’damm«, »Hochseeangeln in der Sächsischen Schweiz« oder »Indoorparagliding im Zollverein Essen«.

Grüßt Dich hoffnungsvoll aus dem Korallenrifftauchparadies Frankfurt: Titanic

 Hello, »Zeit«!

»Wenn Berlin das New York Deutschlands ist, dann ist München das deutsche Los Angeles«, schreibst Du. Aber wenn München das deutsche Los Angeles ist, ist Hamburg dann auch das deutsche Miami? Und Wolfsburg das deutsche Detroit? Und die Zeit die deutsche New York Post? Und so ein Städtevergleich deutscher Unsinn?

Fragt aus dem deutschen Frankfort (Kentucky) Titanic

 Herzlichen Glückwunsch, lieber Fundus!

Herzlichen Glückwunsch, lieber Fundus!

Die erste Handlung der neugegründeten TITANIC-Redaktion im Jahr 1979, noch vor dem Einrichten, Möbelaufbauen und Bieröffnen, bestand darin, einen Raum zu erkiesen, in dem in Zukunft alle für Fotoromane und Bilderstrecken benötigten Kleidungsstücke und Gegenstände aufbewahrt werden sollten. Dieser füllte sich dann zur großen Verwunderung der Mitarbeiter/innen im Handumdrehen mit geschmacklosen Kleidungsstücken, ausgeleierten Sexpuppen und Naziuniformen unbekannten Ursprungs.

So malt sich zumindest die aktuelle Redaktion heute, 45 Jahre später, Deine Entstehungsgeschichte aus, lieber Fundus! Denn Du bist fürs Büro unabdingbar und wirst von Heftkenner/innen als wichtigster und titanischster Raum der Bundesrepublik gehandelt.

Und das völlig zu Recht: In Dir hängt der edle, von Martina Werner aus der Modemetropole London importierte Leopardenfellmantel (unecht) direkt neben der Kiste mit der dubiosen Aufschrift inklusive seltsamer Anführungszeichensetzung »Brüste, Propellermütze, ›Muslim‹, Jude, Papst, Kippa«. Hier steht die Thermoskanne, aus der beim Öffnen ein Dildo hervorschießt, neben der Kleiderstange mit dem penibel gebügelten Messdienerkostüm.

Hier befindet sich das ekligste Make-up der Welt, das einmal an einem Akne- und Staublungenausbruch bei der gesamten Belegschaft schuld war, als es bei einem der vielen gescheiterten Aufräumversuche herunterfiel und in alle Atemwege und Poren gelangte. Hier steht der Kistenstapel, dessen unterster Karton mit »Frauke Petry« beschriftet ist, der darüber mit »Clown«, und den obersten ziert die Aufschrift »Pferd«. Und nur hier liegt die SS-Uniform herum, die schon im Stuttgarter Haus der Geschichte bewundert werden konnte.

Nicht nur stehst Du für die geniale Dialektik der (alten) TITANIC, Du fungierst auch als Seismograf des Zeitgeistes: Die immer größer werdende Verklemmtheit der Redaktion lässt sich daran ablesen, dass das in Versalien geschriebene »Sex« auf dem ehemaligen Sexkarton mittlerweile durchgestrichen ist. Stattdessen befinden sich in der Kiste laut Aufschrift »Wolle, Seile, Kordel, Nähzeug«. O tempora! Auch Deine Unordnung, in der sich selbst die erfahrensten Angestellten nicht zurechtfinden, lässt sich symbolisch verstehen, erinnert sie doch stark an die Gesprächsführung während einer durchschnittlichen Titelkonferenz.

Du hast schon viel mediale Aufmerksamkeit bekommen, Fundus: Du wurdest für die Vice abgelichtet und im Musikexpress abgebildet – im Grunde hast Du alles erreicht!

Nur eines fehlte Dir – bis jetzt: eine Laudatio von Deiner eigenen Redaktion. Deshalb nun endlich, geehrter Fundus: Alles Gute zum 45jährigen Bestehen! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Schmettert Dir ein kräftiges »Vivat, vivat!« entgegen:

Für immer Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Schattenseite des Longevity-Trends

Ob ich mit fast 60 noch mal Vater werden sollte? Puh, wenn das Kind 100 ist, bin ich schon 160!

Martin Weidauer

 Krass, krasser, Kasse

Wenn ich im Alltag mal wieder einen Kick suche, gehe ich kurz nach Feierabend oder samstags bei einem Discounter einkaufen. Finde ich dort eine richtig lange Kassenschlange vor, stelle ich mich nicht etwa an, sondern lege meine Einkäufe auf die nicht besetzte Kasse daneben. Hier beginnt der Nervenkitzel: Werde ich wie der letzte Idiot erfolglos auf die Öffnung der neuen Kasse warten oder wie ein allwissender Gott über den gewöhnlichen Einkäufern schweben? Mehr Spannung geht nicht. Anfängern rate ich allerdings, sich erst nach dem Schrillen, mit dem im Supermarkt Kollegen gerufen werden, an der leeren Kasse anzustellen. So kann man sich mit ein paar sicheren Erfolgen langsam an das freie Anstellen herantasten.

Karl Franz

 Bibelfest

Ich habe letztens geträumt, dass ich Teil einer christlichen Punk-Band war. Unser größter Hit: »Jesus muss sterben, damit wir leben können«.

David Sowka

 Unangenehm

Auch im Darkroom gilt: Der Letzte macht das Licht aus.

Sebastian Maschuw

 Obacht!

Die Ankündigung von Mautgebühren ist furchterregend, aber so richtig Gänsehaut bekomme ich immer erst, wenn bei Google Maps als »Warnhinweis« auftaucht: »Diese Route verläuft durch Österreich.«

Norbert Behr

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 28.10.:

    Das Schweizer Nachrichtenportal Watson preist den aktuellen Titel der Novemberausgabe im "Chat-Futter" an.

Titanic unterwegs
31.10.2024 Hamburg, Zinnschmelze Ella Carina Werner
01.11.2024 Oschatz, Thomas-Müntzer-Haus Thomas Gsella und Hauck & Bauer
05.11.2024 Sylt, Feuerwache Tinnum Gerhard Henschel
05.11.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview«