Humorkritik | August 2022
August 2022
»Die höchste Lebensspanne des Menschen beträgt hundert Jahre, die mittlere Lebensspanne beträgt achtzig Jahre, die geringe Lebensspanne beträgt sechzig Jahre; abgesehen von Zeiten, in denen man an Krankheiten leidet, um Todesfälle trauert oder sich um Gefahren sorgt, bleiben höchstens vier oder fünf Tage im Monat, an denen man den Mund öffnet und lacht – das ist alles.«
Zhuangzi
Das Scharnier
Die Frage, wie gut ein Komiker »gealtert« ist, wird müßig, wenn der oder die Besprochene tot ist. George Carlin, zweifellos einer der ganz Großen, wäre heute womöglich ein reaktionärer Griesgram. Werden seine Äußerungen, etwa zu political correctness, nicht inzwischen von Linken wie Rechten zitiert? Und war er nicht am Ende seiner Karriere ein doch recht humorloser Nihilist? Ja und ja. Gleichwohl: Dass Carlin zeit seines 71jährigen Lebens auf der richtigen Seite stand und bei aller Verachtung für etliche Menschengruppen zur Liebe für den Einzelmenschen fähig war, ist für mich seit der HBO-Doku »George Carlin’s American Dream« unbestreitbar.
Judd Apatow, der gewiss viel Mediokres verantwortet hat, war so schlau, seinen knapp vierstündigen Film (mit Co-Regisseur Michael Bonfiglio) nicht zur Talking-heads-Parade verkommen, sondern Carlin selbst Rede und Antwort stehen zu lassen: mit Interview-Schnipseln, Ausschnitten aus seinen Programmen, Tagebucheinträgen und sonstigen O-Tönen. Carlin Nahestehende, etwa seine Tochter oder sein herrlich kauziger Bruder, kommen ebenso zu Wort wie Weggefährten und Epigonen. Den Stand-up-Komiker Bill Burr erinnert George Carlin, der an anderer Stelle gar mit Kurt Vonnegut verglichen wird, hinsichtlich seiner mehrfachen Wandlung an Miles Davis. Die Nachzeichnung der verschiedenen Inkarnationen und Bühnen-personae war für mich denn auch am aufschlussreichsten. Das Überraschende: Als geschniegelter, familientauglicher straight guy in den teils noch schwarz-weißen Variety-Shows im US-Fernsehen der Sechziger nimmt mich Carlin genauso ein wie als der von der Obrigkeit geächtete Polit-Comedian, zu dem er in den wilden Siebzigern, auch dank allerlei Rauschsubstanzen, mutierte. Ach ja, später war er auch noch Sitcom-Star, Schauspieler in einer Kindersendung, Trickfilmsprecher und Late-Night-Vertretung für Johnny Carson.
So kann man George Carlin als eine Art Scharnier betrachten: zwischen der heilen Neo-Vaudeville-Welt des WASP-dominierten Nachkriegs-Amerikas und der wütenden Counterculture ab Vietnam ff. Faszinierend!