Humorkritik | Januar 2022

Januar 2022

»was?! glaubt ihr denn ich hätte keinen scheisshumor? Da seid ihr aber verdammt schief damit ….! verdammt schief! verdammtverdammt verdammt verdammt schief …! gottverdammt schief …. schief!! ich versteh … zwar kein sterbenswörtlein mehr … aber humor … humor habe! Das muss mir der neid lassen!«
Oswald Wiener, »die verbesserung von mitteleuropa, roman«

»Contra«, das Original

In den frühen Tagen des Tonfilms war es nicht unüblich, gleich mehrere Versionen einer Vorlage mit Schauspielern aus unterschiedlichen Sprachräumen in denselben Kulissen zu drehen, im Regelfall auf Englisch, Deutsch und Französisch; bisweilen kamen noch italienische und spanische Fassungen dazu. Mit der Möglichkeit, Filme nachträglich zu synchronisieren, löste sich das Sprachproblem, kleinere Länder machten die Originalfassungen durch Untertitel verständlicher. In Deutschland war das Synchronwesen besonders entwickelt, aus drögen Genrefilmen machte Wenzel Lüdeckes »Berliner Synchron« reine Comedy. Chefautor Rainer Brandt legte den Western- und Krimifiguren gern zeitlos-zeitgenössische Frechheiten in den Mund: »Auf Wiedersehen, aber es eilt nicht.«

Seit ein paar Jahren hat man in Europa die amerikanische Methode übernommen, Filme, v.a. Komödien nicht mehr nur zu synchronisieren, sondern komplett neu zu drehen. Das italienische Erfolgsmodell »Perfetti sconosciuti« etwa kursiert derzeit in mehr als einem Dutzend Originalversionen, in Deutschland als »Das perfekte Geheimnis« (TITANIC 2/20). Auch Sönke Wortmann hat nach »Der Vorname« unlängst das zweite Remake eines französischen Filmerfolgs nachgelegt. Sein »Contra« (TITANIC 1/21) hieß im Original »Le Brio« und wurde für mehrere französische Filmpreise nominiert. Die deutsch synchronisierte Fassung blieb im Sommer 2018 fast unbeachtet, ihr Titel »Die brillante Mademoiselle Neïla« macht schon klar, wessen Perspektive der Film einnimmt: die der Studentin, welche sich von einem alten weißen Juraprofessor öffentlich beleidigt fühlt. Der Professor steht danach sowohl in der französischen als auch der deutschen Version unter Rassismusverdacht und wird vom Universitätspräsidenten dazu verdonnert, sein Opfer auf einen Rhetorikwettbewerb vorzubereiten. Dass die beiden ungleichen Figuren am Ende ziemlich beste Freunde werden, ist klar.

Deutsche Versionen sind oft länger als die französischen – nicht nur deshalb, weil die Franzosen schneller reden. Es liegt an den Entschuldigungen. Denn deutsche Bearbeiter sind stets bestrebt, das Fehlverhalten ihrer Figuren so zu erklären, dass sie dem Zuschauer nicht allzu unsympathisch erscheinen. Das beginnt, wenn die Studentin etwas zu spät zur Vorlesung kommt: In »Le Brio« ist das »Neïlas« eigene Schuld, in »Contra« wird »Naimas« Verspätung mit familiären Problemen erklärt. Die Arroganz des deutschen Professors, durchmischt mit Misogynie und Xenophobie, liegt angeblich an den Schuldgefühlen, die ihn seit dem Tod seiner Tochter belasten; sein französisches Pendant ist schlicht einsam. Diese Erklärangebote laden zur Identifikation ein, sind aber natürlich auch Sand im Getriebe der Komödienmechanik.

Andere Fehler sind beiden Filmen gemein: Dass die Autoren von vornherein so deutlich Partei für die Studentin ergreifen und dem Professor wenig Widerstandskraft gönnen, mindert die Spannung. Ganz abgesehen von wirtschaftlichen Erwägungen finde ich die Tendenz zu nationalen Remakes aber durchaus erfreulich, verschafft sie mir als Humorkritiker doch schönes Anschauungsmaterial für Spekulationen über das unterschiedliche Komikverständnis in Europa. Vorläufig lässt sich festhalten: In Lateineuropa geht es weniger sentimental zu als im germanischen Norden.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Drama, Reinhold Messner!

»Ich stand am Abgrund«, beklagten Sie sich in einem Interview mit der Apotheken-Umschau über den anhaltenden Erbschaftsstreit in Ihrer Familie. Nachdem Sie den vier Kindern bereits vor Ihrem Tod testamentarisch einen Großteil des Messner’schen Vermögens überlassen hätten, sei es nur noch darum gegangen, wer mehr bekommen habe, und daran sei Ihre Familie letztlich zerbrochen. Ach, kommen Sie, Messner! Dass Sie den Mitgliedern Ihres Clans je nach Grad der väterlichen Zuneigung tatsächlich unterschiedlich große Geldbündel zugeworfen und dann dabei zugesehen haben, wie sich Ihr Nachwuchs um die Differenz kloppt, war für Sie alten Adrenalinjunkie doch bestimmt ähnlich vergnüglich wie eine Achttausenderbesteigung!

Sieht das sogar vom Fuße des Bergs der Erkenntnis aus: Titanic

 Rechtzeitig zur Urlaubsartikelsaison, »Spiegel«,

lesen wir in Deinem Urlaubsartikel »Entzauberte Idylle« die Behauptung: »In den Ferien wollen wir doch alle nur eins: Aperol Spritz und endlich mal in Ruhe lesen.«

Das können wir natürlich sehr gut verstehen. Wir wollen in den Ferien auch nur eins: 1. eine eigene Softeismaschine auf dem Balkon, 2. einen Jacuzzi im Wohnzimmer, 3. eine Strandbar auf dem Balkon, 4. einen Balkon.

Deine Urlaubsmathematiker/innen von Titanic

 Mmmmmh, Iglo-Freibad-Pommes!

Ihr seid ein neues Tiefkühlprodukt, das in diesem Sommer vom grassierenden Retro- und Nostalgietrend profitieren möchte. Daher seid Ihr derzeit auf den großen Plakatwänden im Stadtbild vertreten, und zwar garniert mit dem knusprigen Claim: »Das schmeckt nach hitzefrei«.

Aber schmeckt Ihr, wenn wir uns recht erinnern, nicht ebenfalls nach einem kräftigen Hauch von Chlor, nach einem tüchtigen Spritzer Sonnenmilch und vor allem: nach den Gehwegplatten aus Beton und der vertrockneten Liegewiese, auf welchen Ihr regelmäßig zu Matsch getreten werdet?

In jedem Fall bleibt es Euch weiterhin verboten, vom Beckenrand zu springen, schimpft Eure Bademeisterin  Titanic

 Hoffentlich klappt’s, Künstlerin Marina Abramović (77)!

Sie wollen gern mindestens 103 Jahre alt werden. Alt zu sein sei in der Kultur des Balkans, im Gegensatz zu der Nordamerikas, etwas Großartiges. Sie seien »neugierig wie eine Fünfjährige« und wollen noch schwarze Löcher und Außerirdische sehen.

Wir wollen auch, dass Sie Außerirdische sehen bzw. dass die Außerirdischen Sie sehen, Abramović. Wenn Sie die Extraterrestrischen, die, wie wir aus diversen Blockbuster-Filmen wissen, nichts Gutes im Schilde führen, mit einer Ihrer verstörenden Performances voll Nacktheit, Grenzüberschreitung und Selbstgefährdung begrüßen, wenden sie sich vielleicht doch von uns ab.

Kommt stets in Frieden: Titanic

 Liebes Werbeplakat in Freiburg!

»Nicht zu wählen, weil man nicht weiß, was, ist, wie keinen Film zu schauen, weil man sich nicht entscheiden kann«, trötest Du am Bahnhof allen noch so unwilligen Nichtwähler/innen entgegen. Jetzt stellt sich natürlich die alles entscheidende Frage: Ist ein versauter Filmabend, bei dem man am Ende aus Langeweile vielleicht sogar Monopoly spielen muss, genauso schlimm wie die Machtübernahme einer neofaschistischen Diktatur?

Fragt Popcorn mampfend Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

 Etwas Heißem auf der Spur

Jedes Mal, wenn ich mir im Hochsommer bei herabgelassenen Rollläden oder aufgespanntem Regenschirm vergegenwärtige, dass das Leben in unseren versiegelten Städten auf entsetzlich wechselhafte Weise öde und klimatisch vollkommen unerträglich geworden ist, frage ich mich unwillkürlich: TUI bono?

Mark-Stefan Tietze

 Abwesenheit

Vielen Dank für Ihre E-Mail. Ich bin vom 02.–05.09. abweisend. Ab 06.09. bin ich dann wieder freundlich.

Norbert Behr

 SB-Kassen

Zu den Seligen, die an Selbstbedienungskassen den Laden kaltblütig übervorteilen, gehöre ich nicht. Im Gegenteil, obwohl ich penibel alle Artikel scanne und bezahle, passiere ich die Diebstahlsicherungsanlage am Ausgang immer in der angespannten Erwartung, dass sie Alarm schlagen könnte. Neulich im Discounter kam beim Griff zu einer Eierschachtel eine neue Ungewissheit hinzu: Muss ich die Schachtel vor dem Scannen wie eine professionelle Kassierkraft öffnen, um zu kucken, ob beim Eierkauf alles mit rechten Dingen zugeht?

Andreas Maria Lugauer

 Ach, übrigens,

der Typ, mit dem ich in jedem Gespräch alle drei Minuten für mindestens fünf Minuten zu einem Nebenthema abschweife: Ich glaube, wir sind jetzt exkursiv miteinander.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

  • 27.08.: Bernd Eilert schreibt in der FAZ über den französischen Maler Marcel Bascoulard.
  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

  • 29.01.:

    Ein Nachruf auf Anna Poth von Christian Y. Schmidt im ND.

  • 13.04.:

    HR2 Kultur über eine TITANIC-Lesung mit Katinka Buddenkotte im Club Voltaire.

Titanic unterwegs
10.09.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Miriam Wurster
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer