Humorkritik | August 2024

August 2024

»Es gibt einen satirischen Imperativ: Man verarscht die Nashörner nicht vor einem Großwildjägerpublikum, man kritisiert nicht die Konsumverweigerer in der Shopping Mall, man rechnet den naiven Philanthropen nicht im Klub der Misanthropen ihre Widersprüche vor.«
Richard Schuberth

Edler Zorn

Als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 Forderungen laut wurden, die russische Literatur gehöre nunmehr auf den Index, hat der Publizist Deniz Yücel für dieses Ansinnen Verständnis gezeigt, wenn auch mit einer einschränkenden, leicht kalauerhaften Warnung: »Das Problem ist nicht Puschkin, das Problem heißt Putin.« Als alter Puschkinversteher schließe ich mich an und ergänze fürs komische Fach: Das Problem heißt auch nicht Gogol, Wenedikt Jerofejew, Iwan Gontscharow, Daniil Charms.

Wie unputinhaft und subversiv gerade die beiden Letztgenannten sind, zeigt die seit langem der schönen und guten russischen Literatur zugeneigte Friedenauer Presse mit zwei neuaufgelegten, von Peter Urban sel. ins Deutsche übersetzten, fein ausgestatteten Texten, die ich hier loben möchte – vor allem die satirische Erzählung »Die Schwere Not« von Iwan Gontscharow (oder »Gončarov«, wie ihn der Verlag schreibt). Es ist sein Debüt, 1838 in kleinstem Kreis verbreitet, nimmt allerdings schon sehr versiert das Motiv des berühmtesten Gontscharow-Werkes vorweg, des unverwüstlichen »Oblomow«. Oblomows Vorgänger heißt hier Nikon Tjaželenko: ein »kleinrussischer Gutsbesitzer«, »seit seiner Jugend berühmt für eine beispiellose, methodische Faulheit und eine heroische Gleichmut für die Eitelkeiten dieser Welt«. Er ist extrem fettleibig und phlegmatisch, beides aus Überzeugung: Nicht einmal davor, dass ihn der Schlag treffen könnte, fürchtet er sich, würde ihm dies doch »Anlass und legitimen Grund« geben, »endlich zu Hause zu bleiben«. Wie Oblomow bevorzugt es Nikon, sein Zimmer nicht zu verlassen, überhaupt jeden überflüssigen Schritt zu vermeiden (und natürlich ist jeder Schritt überflüssig). Gewiss wird man diese Art zu leben als ungesund bezeichnen müssen, und grundsätzlich kann man ja gegen das Verlassen des Hauses nichts einwenden (sonst hätten wir zum Beispiel nicht die schönen Flaneursgeschichten Wilhelm Genazinos oder die Spaziergänge Robert Walsers), doch Nikons Haltung – und damit die komische Grundlage der Geschichte – wird verständlich, wenn man seinen Widerpart betrachtet: eine Familie namens Zurov, die permanent unterwegs ist, auf der Jagd nach Ereignissen, Körperertüchtigung, Zerstreuung. Gemessen an den Schrecken des aktuellen Event- und Selbstoptimierungsgedönses bleibt deren Treiben zwar vergleichsweise harmlos; dennoch zeitigt es genügend lustige Szenen und Beobachtungen, die Nikon Tjaželenkos »edlen Zorn« über das aktive Leben heraufbeschwören: »Welch schreckliches, welch mörderisches Leiden« ist zum Beispiel die »unwiderstehliche Leidenschaft für Spaziergänge«! Es versteht sich, dass die barbarischen »Überfälle auf Wälder und Felder«, bei denen »fünf Täler durchwandert, sieben Seen umrundet, drei Anhöhen erstiegen« werden, zu keinem guten Ende führen.

Zu einem guten, geradezu happy geratenden Ende führt hingegen Daniil Charms’ clowneskes Dramolett »Zirkus Šardam«, das von einem Zirkus erzählt, in dem ein närrischer Mensch namens Vertunov permanent die Vorstellung stört, indem er an dieser teilnehmen will – sogar noch, nachdem er von einem Hai verschlungen wurde. Charms hat das hübsche kleine Stück für ein Marionettentheater geschrieben, die großartige Anarchie seiner Kürzestprosa (die berühmten, nach wie vor lesenswerten »Fälle«) erreicht es freilich nicht.

Dass es manchmal besser ist, Zuschauer zu bleiben, statt kraftprotzend auf die Pauke zu hauen, könnte also die inhaltliche Klammer der beiden Büchlein sein. Hielten sich doch auch Putin et al. an diese Erkenntnis.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Mal wieder typisch, Bundespolizei!

Du testest gerade den Einsatz von Tasern, hast Dir in einem vertraulichen Bericht aber eingestehen müssen, dass diese ihre Mannstoppwirkung oder gleich das ganze Ziel gerne mal verfehlen. Ein Grund für das Versagen der Taser ist wohl: eine »offene Softshell-Jacke«. Und das ist ja mal wieder typisch! Wer muss sich um Polizeigewalt in Taserform also keine Sorgen machen? Gutsituierte Krautwurst-Teutonen in ihren ewigen Softshell-Jacken! Komm, Bundespolizei, Rassismus kannst Du doch auch weniger auffällig, weiß aus anders gekleideter Quelle

Deine Titanic

 Und aber apropos, brigitte.de!

»Diese Angewohnheit schadet deinem Gehirn mehr, als du denkst« – eigentlich ist uns das als Vorlage zu billig. Aber schwer fällt uns der Verzicht schon!

Gewohnheitsmäßig nicht Deine Titanic

 Bei Dir, »O₂ Surftown MUC«,

handelt es sich um eine künstliche stehende Welle im tiefsten Bayern. Und es ist natürlich nur recht und fair, dass Bayern als Bundesland mit Alpenzugang nun Strandsport anbieten kann, nachdem ja auch durch Skihallen in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen beide Meere mit Deutschlandzugang längst mit Bergsportnähe ausgestattet sind.

Wie viel Energie es kostet, das Wasser für die Wellen und den Schnee jeweils auf die richtige Temperatur und in die entsprechenden Formen zu bringen, ist dabei auch egal, denn letztlich ist die ganze Angelegenheit ja klimafreundlich as fuck: Braucht doch jetzt niemand mehr quer durch Deutschland zu reisen, um einem für die Umgebung untypischen Angeberhobby nachzugehen.

Zur Eindämmung weiterer Kurz- und Fernreisen sind daher sicherlich auch schon die nächsten Naturerlebniswelten in Planung! Wir denken da etwa an die »Saharaworld Schwarzwald«, das »Urwalderlebnis Wattenland«, »Wildwasserkajaktouren am Ku’damm«, »Hochseeangeln in der Sächsischen Schweiz« oder »Indoorparagliding im Zollverein Essen«.

Grüßt Dich hoffnungsvoll aus dem Korallenrifftauchparadies Frankfurt: Titanic

 Hello, »Zeit«!

»Wenn Berlin das New York Deutschlands ist, dann ist München das deutsche Los Angeles«, schreibst Du. Aber wenn München das deutsche Los Angeles ist, ist Hamburg dann auch das deutsche Miami? Und Wolfsburg das deutsche Detroit? Und die Zeit die deutsche New York Post? Und so ein Städtevergleich deutscher Unsinn?

Fragt aus dem deutschen Frankfort (Kentucky) Titanic

 Herzlichen Glückwunsch, lieber Fundus!

Herzlichen Glückwunsch, lieber Fundus!

Die erste Handlung der neugegründeten TITANIC-Redaktion im Jahr 1979, noch vor dem Einrichten, Möbelaufbauen und Bieröffnen, bestand darin, einen Raum zu erkiesen, in dem in Zukunft alle für Fotoromane und Bilderstrecken benötigten Kleidungsstücke und Gegenstände aufbewahrt werden sollten. Dieser füllte sich dann zur großen Verwunderung der Mitarbeiter/innen im Handumdrehen mit geschmacklosen Kleidungsstücken, ausgeleierten Sexpuppen und Naziuniformen unbekannten Ursprungs.

So malt sich zumindest die aktuelle Redaktion heute, 45 Jahre später, Deine Entstehungsgeschichte aus, lieber Fundus! Denn Du bist fürs Büro unabdingbar und wirst von Heftkenner/innen als wichtigster und titanischster Raum der Bundesrepublik gehandelt.

Und das völlig zu Recht: In Dir hängt der edle, von Martina Werner aus der Modemetropole London importierte Leopardenfellmantel (unecht) direkt neben der Kiste mit der dubiosen Aufschrift inklusive seltsamer Anführungszeichensetzung »Brüste, Propellermütze, ›Muslim‹, Jude, Papst, Kippa«. Hier steht die Thermoskanne, aus der beim Öffnen ein Dildo hervorschießt, neben der Kleiderstange mit dem penibel gebügelten Messdienerkostüm.

Hier befindet sich das ekligste Make-up der Welt, das einmal an einem Akne- und Staublungenausbruch bei der gesamten Belegschaft schuld war, als es bei einem der vielen gescheiterten Aufräumversuche herunterfiel und in alle Atemwege und Poren gelangte. Hier steht der Kistenstapel, dessen unterster Karton mit »Frauke Petry« beschriftet ist, der darüber mit »Clown«, und den obersten ziert die Aufschrift »Pferd«. Und nur hier liegt die SS-Uniform herum, die schon im Stuttgarter Haus der Geschichte bewundert werden konnte.

Nicht nur stehst Du für die geniale Dialektik der (alten) TITANIC, Du fungierst auch als Seismograf des Zeitgeistes: Die immer größer werdende Verklemmtheit der Redaktion lässt sich daran ablesen, dass das in Versalien geschriebene »Sex« auf dem ehemaligen Sexkarton mittlerweile durchgestrichen ist. Stattdessen befinden sich in der Kiste laut Aufschrift »Wolle, Seile, Kordel, Nähzeug«. O tempora! Auch Deine Unordnung, in der sich selbst die erfahrensten Angestellten nicht zurechtfinden, lässt sich symbolisch verstehen, erinnert sie doch stark an die Gesprächsführung während einer durchschnittlichen Titelkonferenz.

Du hast schon viel mediale Aufmerksamkeit bekommen, Fundus: Du wurdest für die Vice abgelichtet und im Musikexpress abgebildet – im Grunde hast Du alles erreicht!

Nur eines fehlte Dir – bis jetzt: eine Laudatio von Deiner eigenen Redaktion. Deshalb nun endlich, geehrter Fundus: Alles Gute zum 45jährigen Bestehen! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Schmettert Dir ein kräftiges »Vivat, vivat!« entgegen:

Für immer Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Schattenseite des Longevity-Trends

Ob ich mit fast 60 noch mal Vater werden sollte? Puh, wenn das Kind 100 ist, bin ich schon 160!

Martin Weidauer

 Krass, krasser, Kasse

Wenn ich im Alltag mal wieder einen Kick suche, gehe ich kurz nach Feierabend oder samstags bei einem Discounter einkaufen. Finde ich dort eine richtig lange Kassenschlange vor, stelle ich mich nicht etwa an, sondern lege meine Einkäufe auf die nicht besetzte Kasse daneben. Hier beginnt der Nervenkitzel: Werde ich wie der letzte Idiot erfolglos auf die Öffnung der neuen Kasse warten oder wie ein allwissender Gott über den gewöhnlichen Einkäufern schweben? Mehr Spannung geht nicht. Anfängern rate ich allerdings, sich erst nach dem Schrillen, mit dem im Supermarkt Kollegen gerufen werden, an der leeren Kasse anzustellen. So kann man sich mit ein paar sicheren Erfolgen langsam an das freie Anstellen herantasten.

Karl Franz

 Bibelfest

Ich habe letztens geträumt, dass ich Teil einer christlichen Punk-Band war. Unser größter Hit: »Jesus muss sterben, damit wir leben können«.

David Sowka

 Unangenehm

Auch im Darkroom gilt: Der Letzte macht das Licht aus.

Sebastian Maschuw

 Obacht!

Die Ankündigung von Mautgebühren ist furchterregend, aber so richtig Gänsehaut bekomme ich immer erst, wenn bei Google Maps als »Warnhinweis« auftaucht: »Diese Route verläuft durch Österreich.«

Norbert Behr

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 28.10.:

    Das Schweizer Nachrichtenportal Watson preist den aktuellen Titel der Novemberausgabe im "Chat-Futter" an.

Titanic unterwegs
31.10.2024 Hamburg, Zinnschmelze Ella Carina Werner
01.11.2024 Oschatz, Thomas-Müntzer-Haus Thomas Gsella und Hauck & Bauer
05.11.2024 Sylt, Feuerwache Tinnum Gerhard Henschel
05.11.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview«