Humorkritik | November 2024
November 2024
»Der Witz ist das einzige Ding, was um so weniger gefunden wird, je eifriger man es sucht.«
Friedrich Hebbel
Nie wieder kleckern
Nostalgie betreffs gerade erst vergangener Trends und Phänomene wohnt schon per se etwas Lustiges inne. Dass es um den Literaturtrend Twitter-Lyrik ganz im Ernst schade ist: das konstatiert Clemens J. Setz in seiner wehmütigen, bei Suhrkamp erschienenen Retrospektive »Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie«. Als faszinierendstes Merkmal der von ihm gefeierten »Nischenrevolution« im Netz macht Setz deren Kürze aus: »Die Begrenzung auf 140 und später 280 Zeichen brachte ungeahnte Freiheiten der Poesie hervor.«
So offenbart ein immerhin mit dem Büchner-Preis dekorierter Hochkulturautor seine Begeisterung und Bewunderung für Leute, deren Texte ihn inspiriert haben – »man würde sich das selbst nie trauen« –, während ihre Identität, damals zumindest, im Dunkel der Pseudonyme verbleibt. Was »@LunaticAbsturz, genannt Luni«, »@susibumms« oder Kurt Prödel auf ihren Accounts veröffentlicht haben, ist heute weitgehend verschwunden, einige Texte hat Setz kopiert und dokumentiert. Da begegnet dem Humorkritiker manches, was in sein Ressort fällt und ihn erfreut, etwa wenn Susibumms fragt: »Wißt Ihr Noch Als Ihr Das Erste Mal Im Leben Nie Wieder Im Leben Gekleckert Habt« oder Carla Kaspari zu erfahren begehrt: »was war zuerst da / keith haring / oder die zahnarztpraxis«.
So neu kommt mir das alles allerdings nun nicht vor: Nach strengen Spielregeln gedichtet wurde schon in der Barockzeit, und der anarchischen Freiheit die Sporen gegeben haben auch schon andere, ich denke exemplarisch an die Technik des automatischen Schreibens, mit der Dadaisten und Surrealisten Sinn verweigert und dadurch neu geschaffen haben. Und dass die Twitter-Splitter einen Hang zum Haiku haben oder an die Aphorismen des von mir an dieser Stelle hinreichend gefeierten Jules Renard (TITANIC 9/2022) erinnern, weiß natürlich auch Setz, belegt es in seinem kleinen »historischen« Abriss und anhand seiner eigenen Texte, die er in Teil I des Buches präsentiert. Auch da stoße ich auf den einen oder anderen komischen Einfall: »Tapfrer kleiner Günter Grass / wächst auf Gehsteigrändern / wirst im Regen pudelnass / Du musst dein Leben ändern« – und dazu das Foto eines dem Schnauzbartträger tatsächlich verblüffend ähnlich sehenden Stiefmütterchens, das traurig im Rinnstein liegt. Doch an die Wucht und Unbekümmertheit der bescheiden auf öffentlichen Ruhm verzichtenden Twitter-Dichterinnen und -Dichter kommen Setzens Versuche nicht heran: »Saxofone letztendlich / auch nur / Ritterrüstungen / für Aale«; das ist ein bisschen zu, nun ja: gesetzt und vom gestalterischen Willen eines Schöpfers gezeichnet, der nun mal Clemens J. Setz heißt und ein echter Autor ist, der sogar den Büchner-… Aber das sagte ich ja bereits.
Alles vorbei und verschwunden, denn Elon Musk hat nach seiner Machtergreifung bei Twitter das »kreativitätsfördernde Zeichenlimit« kassiert. Ein Glück, dass Schatztaucher Setz vorher noch eine ganze Menge gerettet hat, ganz analog zwischen zwei Buchdeckeln und mithin als Bleibendes gestiftet.