Artikel

Impfen, bis der Arzt kommt – zu Besuch bei einer Impfgegnergegnerin

Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich durchgesetzt: Dank der 39jährigen Kanzlerhoffnung (i.e. er hofft seit 39 Jahren, Kanzler zu werden) wird in Deutschland bald die Impfpflicht eingeführt wie eine 0,6-Millimeternadel in die Pobacke eines Pennälers, und gefährliche Infektionskrankheiten werden ein zweites Mal ausgerottet werden können. Doch die Vorstellung einer verpflichtenden Vorbeugung vor Mumps & Co. stößt nicht landesweit auf Zustimmung. Zum Glück formiert sich seit kurzem als Gegenpol zu den berüchtigten Impfgegner(inne)n eine meinungsstarke Bewegung, die sich "Impfgegnergegner" nennt. Was steckt dahinter? Paranoia? Eine Verschwörung? Autismus? Wir durften mit einer Person sprechen, die es weiß – weil sie dazugehört.

Unser Tag beginnt im chicsten Villenviertel Münchens. Nicht, weil wir hier wohnen, sondern weil wir mittellosen Onlineredakteure einfach direkt vor Ort geschlafen haben, damit sich unser Arbeitgeber die teure Jugendherberge sparen kann. Müde und übernächtigt kriechen wir aus dem Zelt, strecken uns und sammeln die abgefrorenen Zehen ein. "Das liegt aber nicht an Ihrem durch Impfungen geschwächten Körper", kichert eine adrett gekleidete Frau, unsere Gastgeberin Madeleine von Lohenstein. Sie steht sehr plötzlich vor uns, aber immerhin haben wir auch in ihrer Einfahrt geschlafen. "Darf ich Ihnen einen Begrüßungsshot anbieten?" fragt sie mit koksweißem Lächeln. "Wir hätten Maracuja, Agavendicksaft oder MMR." 

Doch uns interessiert allein, was es mit dieser abgeschotteten Gruppe auf sich hat. Braucht es wirklich eine Bewegung, die mit Nachdruck und Eifer das verteidigt, was der gesunde Menschenverstand ohnehin gebietet? Oder verhält es sich mit Impfgegnergegnern zu Impfbefürwortern wie mit der Antifa zu Nichtfaschisten? "Ich persönlich finde die Bezeichnung 'Impfgegnergegner' so negativ!" ruft die elegante Frau von Lohenstein, während sie uns in ihrem imposanten Eingangsportal verloren hat. "Wir bevorzugen Begriffe wie Chancengeber oder Kinderzukunftsoptimierer." Tatsächlich, wenn man sich in der geräumigen Villa umsieht, gibt es viele Anzeichen, dass sie versucht, ihrem Nachwuchs alle möglichen Chancen zu geben: In den Kinderzimmern türmen sich Mandarinlehrer, Bücher übers Programmieren und Elektroschockgeräte. "Meine Philosophie ist", setzt von Lohenstein an, während sie nach dem Personal klingelt, damit es sich einigen metzelnden Legorobotern vorwirft, "dass ich doch nicht so viel in meine Kinder investiere, damit die dann von einer Prollkrankheit wie Masern dahingerafft werden. Risiko bei Investitionen gehe ich nur beim Spekulieren mit Lebensmitteln aus Entwicklungsländern ein." So sei es auch bei den anderen Zukunftsoptimierern: "Letztendlich sind wir eine Gruppe sehr ambitionierter Eltern, die nicht einsieht, ihr Humankapital zu verschwenden." 

Das erklärt zwar ihre positive Einstellung gegenüber dem Impfen, aber warum sind die "IGG" – wie sich die Männer und Frauen in ihrem gemein(nützig)en Verein "Zwing Piks" nennen – so vehement gegen andere Menschen, die ihre Kinder nicht impfen wollen? "Ich würde ja gern sagen: Ach, so was regelt der Markt. Und gewiss, wahrscheinlich sind Heilkristalle, Exorzismen und Ausschwitzen genau so wirkungsvoll wie Kanülen und Spritzen. Aber ich kann einfach nicht mit ansehen, wie andere so sehr die Chancen ihrer Kinder verschwenden." Von Lohenstein wird ernst, wedelt sogar mit der Faust (ihrer Haushälterin). "Dass diese Leute sich der Logik des Kapitals einfach nicht unterwerfen wollen! Anstatt das Leben ihrer Kinder als Teil ihrer privaten Altersvorsorge zu sehen, vertrauen sie komplett auf den Staat und wundern sich dann über 250 Euro Rente, die sie ab einem Alter von 88 Jahren erhalten." 

"A syringe a day keeps the doctor away!" scherzt von Lohenstein

Das Ziel der Impfgegnergegner deshalb: Die Streichung aller staatlichen Sozial- und Rentenleistungen, stattdessen komplette Finanzierung der Senioren durch ihre Kinder. "Nur so kann man denen wohl beibringen, dass ein Kinderleben etwas wert ist. Nämlich mindestens die Altersheimplätze, für die das Blag dann aufkommen darf." Dafür setzen sie sich sehr engagiert ein: Häufig ist Madeleine von Lohenstein im Internet, meistens unterwegs in speziellen Foren, in denen sie und ihre Verbündeten sich sammeln: Hier kursieren Listen von Ärzten, die "besonders gut den Schuss setzen", wie es in den Kreisen heißt. Am beliebtesten sind Praxen, in denen die doppelte Menge der vorgeschriebenen Dosis verabreicht wird, gern auch mehrmals nacheinander. "Nur zur Sicherheit", erklärt von Lohenstein, "man braucht halt einen Rettungsschirm!" Auch etliche Memes bringen diese Onlineforen hervor: Bilder zahnloser, buckliger, alter, bettelnder Menschen, darunter Sätze wie "Hätte ich mal besser mein Kind geimpft!" Oder Fotos von Puppen, gespickt mit Nadeln und versehen mit dem Text: "Ihr Kind braucht mindestens so viele Impfungen, um Ihr Rentenalter zu erleben". Zum Totlachen.

Laura Brinkmann / Torsten Gaitzsch

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Es tut uns aufrichtig leid, Alice und Ellen Kessler (die Kessler-Zwillinge),

Es tut uns aufrichtig leid, Alice und Ellen Kessler (die Kessler-Zwillinge),

dass Ihre Kindheit, wie Sie im Bunte-Interview erzählten, von der täglichen Gewalt eines trinkenden Vaters geprägt war. Ganz überraschend kommt Ihr Geständnis vom besoffenen Prügelpapa allerdings nicht. Man hätte sich schließlich denken können, dass dieser Arsch dauernd doppelt gesehen hat.

Verdient im Gegensatz zu Ihnen für diesen Gag auf jeden Fall Schläge: Titanic

 Dass Du das »Du«, Steffen Freund,

so bescheuert verwendest, werden wir von Deiner Zeit als Fußball-Co-Kommentator bei RTL in unangenehmer Erinnerung behalten.

»Das muss anders gespielt werden! Du musst den Spieler in die Zone bringen.« – »Das zeichnet eine gute Mannschaft eben aus – dann lässt du dich besser fallen.« – »Gegen den Ball ist da kein Abnehmer, und das spürst du natürlich auch.« – »… und dann bist du in einer Situation, wo es gelb bis rot wird.« – »Dann hast du noch drei zentrale Mittelfeldspieler, das reicht dann mal nicht.« – »Du brauchst jetzt zwei Spieler, die noch frisch sind.« – »Es ist ein K.-o.-Spiel! Du hast nur noch 20 Minuten!« – »Einfach mal durchstecken! Jetzt kannst du eins gegen eins gehen!«

Eben nicht. Weil wenn’s ganz unerträglich wird, kannst Du natürlich den Ton abschalten.

Brauchst Du aber nicht mehr. Jetzt ist es ja vorbei. Und Du liest wieder Titanic

 U sure, Jürgen Klopp?

U sure, Jürgen Klopp?

Nachdem Sie Ihren Posten beim FC Liverpool niedergelegt haben, halten Sie sich in Sachen Zukunftspläne bedeckt. Nur so viel: »Ich werde irgendwas arbeiten. Ich bin zu jung, um nur noch Padel-Tennis und Enkelkinder zu machen.«

Keine Ahnung, wie Sie sich den typischen Alltag im Ruhestand so vorstellen, Kloppo. Doch wenn Menschen fortgeschrittenen Alters Nachwuchs zeugen, heißt das Ergebnis – zumindest in den meisten Fällen – »Kinder« und nicht »Enkelkinder«.

Schwant Böses: Titanic

 Gute Güte, sehr unverehrter Hassan Nasrallah!

Gute Güte, sehr unverehrter Hassan Nasrallah!

Sie sind Chef der Hisbollah, und ein neues Propagandavideo Ihrer freundlichen Organisation war mit einem Satz unterlegt, den Sie bereits 2018 gesagt haben sollen: Die Hisbollah besitze »Präzisions- und Nicht-Präzisionsraketen und Waffenfähigkeiten«, die Israel »mit einem Schicksal und einer Realität konfrontieren werden, die es sich nicht ausmalen kann«.

Das, Nasrallah, glauben wir, verkörpern Sie doch selbst eine Realität, die wir agnostischen Seelchen uns partout nicht ausmalen können: dass das Schicksal von Gott weiß wie vielen Menschen von einem Knall- und Sprengkopf wie Ihnen abhängt.

Ihre Präzisions- und Nicht-Präzisionsraketenwerferin Titanic

 Eine dicke Nuss, »ZDF heute«,

hast Du uns da zu rechnen gegeben: »Die Summe aus sinkenden Ticketverkäufen und gestiegenen Kosten« führe dazu, dass Festivals heutzutage meist ein »Minusgeschäft« seien.

Also wenn man die Ticketverkäufe und die gestiegenen Kosten addiert, wie man es ja in der Erstsemester-BWL-Vorlesung gelernt hat, und davon ausgeht, dass die Ticketverkäufe trotz Flaute größer als Null bleiben und auch die Kosten eine positive Zahl bilden, die Summe entsprechend ebenfalls positiv bleibt (und kein »Minusgeschäft« ergeben kann), dann müsste das Ergebnis doch sein … hmm … ja, genau: dass Du wirklich keine Ahnung von Mathe hast.

Aber mach Dir nichts draus, dafür hast Du ja Deine Zählsorger/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Schierlingsbücher

Kaum jemand erinnert sich an das allererste selbstgelesene Buch. War es »Wo die wilden Kerle wohnen« oder doch Grimms Märchen? Schade, denke ich mir. Es könnte eine Wegmarke in die wunderbare Welt der Bibliophilie sein. In meiner Erinnerung wabert stattdessen leider nur ein unförmiger Brei aus Pixibüchern. Diesen Fehler möchte ich am Ende meines Leselebens nicht noch einmal machen. Und habe mir das Buch »Essbare Wildpflanzen« bestellt.

Teresa Habild

 Verdrehte Welt

Vermehrt las ich in letzter Zeit, bei Männern werde die Kombination aus langen Haaren und Dreitagebart als besonders attraktiv wahrgenommen. Da bin ich kurz davor wohl doch wieder falsch abgebogen. Dafür bin ich jetzt stolzer Träger eines langen Bartes und Dreitagehaars.

Dennis Boysen

 Schock total

Wenn im Freibad dieser eine sehr alte Rentner, der sich beim Schwimmen kaum fortzubewegen scheint, der bei seinen zeitlupenartigen Zügen lange untertaucht und von dem man dachte, dass er das Becken schon vor langer Zeit verlassen hat, plötzlich direkt vor einem auftaucht.

Leo Riegel

 Hybris 101

Facebook und Instagram, die bekanntesten Ausgeburten des Konzerns Meta, speisen seit kurzem auch private Daten ihrer Nutzer in die Meta-eigene KI ein. Erst wollte ich in den Einstellungen widersprechen, aber dann dachte ich: Ein bisschen Ich täte der KI schon ganz gut.

Karl Franz

 Abwesenheit

Vielen Dank für Ihre E-Mail. Ich bin vom 02.–05.09. abweisend. Ab 06.09. bin ich dann wieder freundlich.

Norbert Behr

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

  • 27.08.: Bernd Eilert schreibt in der FAZ über den französischen Maler Marcel Bascoulard.
  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

  • 29.01.:

    Ein Nachruf auf Anna Poth von Christian Y. Schmidt im ND.

  • 13.04.:

    HR2 Kultur über eine TITANIC-Lesung mit Katinka Buddenkotte im Club Voltaire.

Titanic unterwegs
10.09.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Miriam Wurster
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer