Müters Söhne #20
Besserwisser
"Das ist Yoga für den Boden"
Henry ist 12 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Ich denke erst, ich habe mich verhört, als Henry aus der Küche schreit: "Ahhh! Hilfe!! Es brennt!!!" Nicht weil es mich wundert, dass ein Feuer entfacht ist, während Henry versucht, ein Champignon-Risotto zu kochen. Sondern weil ich nicht glauben kann, dass er mich um Hilfe bittet. Ich zögere. Erst als er erneut um Hilfe ruft und sich im nächsten Moment der Feuermelder einschaltet, erhebe ich mich von meinem Massagesessel. Die Angst in seiner Stimmung gibt mir Genugtuung. Scheint er also doch nicht alles besser zu wissen.
Noch vor ein paar Wochen wäre Henry nicht auf die Idee gekommen, selbst zu kochen. Zunächst nahm ich es als positive Entwicklung wahr, dass Henry mitten in unserem Garten ein eigenes Beet angelegt hatte. Feldsalat und Porree hatte er bereits ausgesät. Eigentlich interessiert ihn nicht, woher Lebensmittel kommen. Einmal fragte er mich, welches Tier man melken müsse, um Red Bull Aprikose-Erdbeere zu gewinnen. "Natürlich Nagetiere", antwortete ich lachend. Aber nicht jeder spricht fließend Sarkasmus. Das musste ich spätestens feststellen, als unser peruanisches Meerschweinchen Juan, immer wenn Henry sich ihm näherte, Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigte.
Aber wenigstens hatte er mich damals noch gefragt. Heute fragt Henry nicht mehr. Heute hat Henry bereits entschieden, dass er nur noch Lebensmittel essen möchte, die aus einer biodynamischen Landwirtschaft stammen. Ich ärgerte mich, dass ich noch nie davon gehört hatte. "Das ist Yoga für den Boden", erklärte er mir, während er mit Meerschweinchenkot gefüllte Energydosen zwischen seine Saat vergrub. Eigentlich müsste laut Rudolf Steiner ein Kuhhorn mit Kuhmist gefüllt und bei Vollmond vergraben werden, um die kosmischen Kräfte des Bodens zu aktivieren. "Sollte aber trotzdem reichen, damit das Gemüse später die Corona-Impfung rückgängig macht, die du mir aufgezwungen hast."
Ich war schockiert. Diesen abschätzigen Ton kannte ich sonst nur von seinem Bruder Gideon. Meine Lebensmittel waren also nicht gut genug. "Du kannst nicht garantieren, dass ich von deinem Discounter-Scheiß keinen Bandscheibenvorfall bekomme." Natürlich weiß ich, dass es auf nichts im Leben eine Garantie gibt. Ich weigerte mich jedoch, mit dem Gemüse von Demeterzu kochen, das Henry selbstständig im Biomarkt gekauft hatte. Jetzt wusste er also auch noch, wie man bezahlte. Ich bin es nicht oft, aber in diesem Moment war ich beleidigt. Ich ließ ihn in der Küche allein.
Als ich das Feuer in der Küche lösche, hat es bereits einen Schaden von mehreren Tausend Euro verursacht. Erziehungsmaßnahmen sind wichtig. Henry hat seine Lektion gelernt. Spätestens als ich ihm klarmache, dass nicht die Hausratsversicherung, sondern er mir die zwei beschädigten Thermomixer von seinem eigenen Geld ersetzen muss. Henry muss in Zukunft in Kauf nehmen, dass er durch mein Kartoffelgratin einen Bandscheibenvorfall bekommt. Aber ich hätte niemals in Kauf nehmen können, dass Henry so ein Besserwisser wird wie Gideon.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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