Müters Söhne #24
Zukunftspläne
Hätte ich Gideon abgetrieben?
Gideon ist 17 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 12 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Gideon denkt aktuell viel über seine Zukunft nach. Ich habe gelesen, das machen viele Jugendliche in seinem Alter. Als ich kurz vor dem Abitur stand, habe ich nicht viel nachgedacht. Ich wollte das Leben auf mich zukommen lassen. Meine Dermatologin hat mir kürzlich bestätigt, dass ich aufgrund dieser Einstellung kaum Falten habe. Gideon ist hingegen ein Mensch, der einen konkreten Plan braucht. Er zerbricht sich den Kopf darüber, ob er direkt studieren oder vielleicht doch erst ins Ausland möchte. Er mag etwas jünger sein als ich, aber wenn er so weitermacht, kann seine Stirn bald in Rente gehen.
Vor allem Gideons letzter Plan bereitet aber auch mir schweres Stirnrunzeln: "Ich erstrebe, Literaturkritiker zu werden." Viele Eltern wünschen sich ja, dass ihre Kinder in ihre Fußstapfen treten. Ich wünsche mir das nicht. Gideon stellt sich das Schreiben sehr einfach vor. Er will partout nicht sehen, wie anstrengend und zeitintensiv es ist, tagtäglich, Woche um Woche, über das Leben mit drei Söhnen zu reflektieren, und das Ganze dann auch noch zu Papier zu bringen. Mir blieb deshalb keine andere Wahl, als vom Schlimmsten auszugehen: Gideon wollte Literaturkritiker werden, um meine Kolumne zu kritisieren. Hätte ich ihn abgetrieben, wenn ich das damals gewusst hätte? Schwer zu sagen.
Zuletzt ist er auf die Idee gekommen, sich nach dem Abitur erst einmal freiwillig zu engagieren: "Ich möchte die Menschen in Peru bei der Wiederaufforstung unterstützen." Gideon findet es wichtig, Erfahrungen zu sammeln. Ich habe nicht verstanden, warum er glaubt, er könne meine Kolumne besser kritisieren, wenn er vorher ein paar Kapokbäume gepflanzt hat. "Es geht um unsere Erde, nicht um dich!" schrie er mir entgegen. Das bezweifelte ich. Wenn überhaupt, lag Gideon die Erderwärmung nur am Herzen, weil ich so gerne in die Sauna gehe. Die Idee, Bäume zu pflanzen, hat er aber eh schnell wieder verworfen. Ihm ist eingefallen, dass er würgen muss, wenn er Erde unter den Fingernägeln hat.
Eine Sache gefiel mir aber an seiner Idee: dass er Zeit im Ausland verbringen würde. Vielleicht sogar irgendwo, wo er schlechten Empfang hat. Ich habe neulich von einem Mann gelesen, der über 50 Jahre mit dem Fahrrad unterwegs war. In dieser Zeit war er kein einziges Mal zu Hause. "Konnte er dann überhaupt seine Kleidung steamen?" fragt Gideon, als ich versuche, ihm die Geschichte von Heinz Stücke schmackhaft zu machen. Keine Chance. Ich recherchiere trotzdem weiter. Literatur gibt es in jedem Land – warum sollte er dann nicht die südkoreanische studieren? Seoul ist weit entfernt. Die Ausrede, dass mir die lange Autofahrt dorthin zu anstrengend ist, ist sehr glaubwürdig. Außerdem habe ich nicht vor, meine Kolumne in Zukunft auf Koreanisch zu verfassen. Ich muss zugeben: Allein der Gedanke von Gideon in Südkorea ist Botox für meine Stirn.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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