Müters Söhne #29
Tierquälerei
"Ich könnte einen weißen Löwen besiegen"
Henry ist (mittlerweile) 13 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Jugendliche interessieren sich nur noch für das, was auf ihren Bildschirmen passiert, und nicht mehr für die Realität. Besonders Henry, so dachte ich immer. Letztes Jahr trauerte er immerhin mehr um einen verlorenen Spielstand als um seine eigene Großmutter. Doch dann fragte er mich aus heiterem Himmel: "Welches Tier, glaubst du, könntest du im Nahkampf besiegen?" Er habe mit seinen Klassenkameraden auf dem Schulhof über diese Frage diskutiert. "Ich könnte einen weißen Löwen besiegen", behauptete Henry selbstbewusst.
Ich lachte auf. In diesem Gedankenspiel sind weder Schwerter oder Flammenwerfer noch irgendwelche Beschwörungszauber erlaubt wie in einem seiner Ballerspiele. Die einzigen Waffen, die erlaubt sind, sind der eigene Körper und der Verstand. Beides ist bei Henry noch im Aufbau. Und trotzdem glaubte er absurderweise, er könnte im Eins-gegen-Eins einen Löwen bezwingen? Wenn Henry damals diesen Tanzkurs gemacht hätte, könnte er wenigstens im Dance Battle gegen die Raubkatze gewinnen. Soweit ich weiß, lernen Löwen in der freien Natur keinen Discofox.
"Es geht um richtiges Kämpfen", korrigierte mich Henry, "schlagen, treten, würgen." Ich verstehe nicht, woher diese Selbstüberschätzung kommt. Im Gegensatz zu mir hat Henry wenig Erfahrung mit Tierquälerei gemacht. Ich hatte immerhin kürzlich eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Obi-Biber, nachdem mein Rabattcoupon im Baumarkt nicht anerkannt wurde. Seitdem weiß ich, dass ich einen menschengroßen Biber mehrere Minuten zu Boden drücken kann. Für den Kampf gegen einen Löwen eine nicht unerhebliche Erfahrung.
Henry fehlt diese Erfahrung. Deswegen würde ihm die Raubkatze innerhalb weniger Sekunden entweder das Genick durchbeißen oder ihn zerfleischen und dann verbluten lassen. Trotzdem sah ich nach intensivem Nachdenken eine Chance für meinen Sohn. Henry ist sehr blass, geradezu durchsichtig. Ein weißer Löwe würde ihn vielleicht mit einem seiner Jungtiere verwechseln und als gleichberechtigtes Familienmitglied akzeptieren. Henry sollte also lieber sagen: "Ich könnte eine weiße Löwin zähmen." Lange kann ich mich jedoch nicht mit diesem Szenario auseinandersetzen. Mich gruselt es sehr, dass Henry eine weiße Löwin "Mama" nennen könnte.
Ich denke, Henry hat sich bewusst für einen weißen Löwen entschieden. "Weil die cooler aussehen", erklärt er mir, aber das glaube ich ihm nicht. Henry möchte vor seinen Freunden cool dastehen. Und das ist okay. Aber er weiß sicher auch, dass weiße Löwen sehr selten sind. Selbst wenn wir eine Reise nach Südafrika planen würden, wäre es höchst unwahrscheinlich, die Raubkatze dort im Hotelflur zu treffen. Wäre Henry nicht tatsächlich cooler, wenn er seinen Freunden wirklich beweisen könnte, dass er in der Lage wäre, einen weißen Löwen zu zähmen? Weil ich ihn dabei filme? Ich schlage Henry vor, mit ihm ins Safariland Stukenbrock zu fahren. Dort gibt es weiße Löwen. Bis dahin muss ich mich nur noch mit der Möglichkeit abfinden, dass Henry es vorziehen könnte, in Zukunft von einer Raubkatze erzogen zu werden.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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