Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Von der Nachgiebigkeit (1. Teil)
In meiner Eigenschaft als beeidigter Sachverständiger beim Landesgericht hatte ich zwecks Gutachtenserstellung einen schweren Maschinenbruch bei einer Hagener Firma inspiziert und verließ am frühen Abend erschöpft das Werksgelände. Als ich mich meinem auf der anderen Straßenseite geparkten PKW näherte, mußte ich mit jähem Schrecken erkennen, daß mit dem fast fabrikneuen Fahrzeug etwas nicht in Ordnung war. Aufgeregt lief ich hin und entdeckte einen kleinen Jungen, der sich, wie es schien, daran zu schaffen machte. Ich verlor die Beherrschung: »He! Was machst du da, Saubengel? Laß gefälligst die Pfoten von meinem Auto!«
Ich wollte noch drohen: »Wenn du mir den Lack verkratzt...«, doch da sah ich schon die ganze Bescherung. Es war so unfaßbar, daß es mir fast den Verstand raubte. Mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam, schrie ich: »Das kostet dich dein Leben, du Bestie!«
Jemand faßte mich von hinten beim Arm, eine Frauenstimme sagte: »Bitte mäßigen Sie sich!« Ich wandte mich wutschnaubend um, neben mir stand eine gutaussehende junge Frau mit einem Tretroller an der Hand.
»Mich mäßigen?« fuhr ich sie an. »Mischen Sie sich lieber nicht ein! Ich schlag ihn tot! Ich schlag ihn auf der Stelle tot!«
Doch sie hielt mich an der Jacke fest: »Halt! Das ist mein Sohn! Es ist sein Tretroller, den ich schiebe!«
Verblüfft starrte ich das so unschuldig aussehende Kinderfahrzeug an. Einen Rest Selbstkontrolle besaß ich noch, denn anstatt den Roller an mich zu reißen und seinen Besitzer damit zu erschlagen, ließ ich meinen Zorn verbal an der aus, die sich als Erziehungsberechtigte ausgab: »Ihr Sohn ist das? Da gratuliere ich aber! Sehen Sie sich an, was er mit meinem Auto gemacht hat! Es ist völlig zerstört, irreparabel! Ein Totalschaden! Womit soll ich jetzt nach Hause fahren?«
Weil sie nichts sagte, fuhr ich fort: »Hoffentlich sind Sie versichert! Oder ist es Ihnen lieber, wenn wir die Polizei hinzuziehen?«
Die junge Frau antwortete: »Es ist alles ganz anders, als Sie glauben.«