Gratulation zum neuen Jahr
Weil ich unlängst an dieser Stelle einen kurzen Text versehentlich zweimal veröffentlicht habe (was ich zu entschuldigen bitte), soll heute zur Entschädigung ein sehr langer erscheinen, der hier hoffentlich noch nie zu lesen war. Er wurde vor vielen Jahren zusammengehauen, als der berühmte Dichter Thomas Gsella erstmals das Bundesverdienstkreuz erhielt.
Erinnerungen an Thomas Gsella
Dann schildere ich hier vielleicht einen Besuch, den ich Thomas Gsella in seinem Büro abstattete, nachdem er Chefredakteur der Jugendzeitschrift "TITANIC" geworden war. Bei Gsella im Büro gab es immer gut zu essen, das war damals allgemein bekannt. Dorthin ging man, wenn man vor Hunger nicht mehr weiter wußte. Nachdem ich an dem betreffenden Tag Frühstück und Mittagessen verschlafen hatte, erschien mir die Möglichkeit, mich bei Gsella auf Redaktionskosten durchzufressen, trotz allen daraus erwachsenden Unbekömmlichkeiten doch verlockend. Bei ihm sofort Kaffee und Kuchen zu bekommen, war besser als eine Viertelstunde lang bis in den Ort zu laufen und dort viel Geld auszugeben. Ich ging also hin, in der Sophienstraße 8 residierte er damals. Die Tür stand wie immer offen, Robert Gernhard und F.K. Waechter spielten im Flur Fußball mit dem Kopf von Gsella. Ich rief sofort, allen Respekt hintan stellend: "Das können Sie doch nicht machen!" Na, wie sich dann herausstellte, war es doch nicht der Kopf von Gsella, sondern irgend etwas anderes. Ich war damals nur so auf Thomas Gsella fixiert, daß ich ihn bzw. seinen Kopf überall sah: Im Fernsehen, draußen, drinnen, auf der Eisbahn, im Traum, überall. Gernhard und Waechter lachten sich kaputt über meinen Irrtum. In der Küche röchelte die Kaffeemaschine. Gsella holte soeben den längst fertigen Kaffee und lud mich ein, ihm in sein geschmackvoll eingerichtetes Büro zu folgen. "Setzen Sie sich", sagte er, und ich nahm meinen gewohnten Platz ein. Da erst fiel mir auf, wie unmöglich der Tisch gedeckt war. So ziemlich alles stand an der falschen Stelle. Gsella plazierte die volle Glaskanne links von sich hart am Tischrand. Seine Tasse stand rechts neben der Untertasse, die Kuchengabel lag links vom Teller. Nachdem er sich gesetzt hatte, hob er den rechten Arm, hielt ratlos inne, näherte die Hand mal der Kanne, mal der Milch, ergriff zuletzt aber den Süßstoff. Sowie zwei Sacharin-Tabletten aus dem zylinderförmigen Spender in seine Tasse gefallen waren, blickte Gsella in diese hinein, um dann aufzuschreien: "Beide sind aufrecht stehengeblieben! Wenn man das absichtlich hinkriegen wollte, würde es einem nicht in hundert Jahren gelingen!"
Ich wurde dringend aufgefordert, es mir ansehen, und bereute, nicht lieber in den Ort gegangen zu sein. Jedesmal, wenn Gsella einen Schluck getrunken hatte, setzte er die Tasse wieder rechts von der Untertasse ab. Bis zum Schluß behielt er diese Praxis bei. Mit der rechten Hand ergriff er, über seinen Teller hinweg, die weit links außen stehende Kaffeekanne, füllte seine Tasse und stellte die Kanne an den Tischrand zurück. Um sie zu erreichen, mußte ich mich über den ganzen Tisch beugen. Was wir sprachen, weiß ich nicht mehr. Ich hatte auch andere Sorgen, als darauf zu achten, denn jeden Augenblick konnte Gsella anfangen, Klavier zu spielen. Wie stets in dieser Situation, hatte ich das Bedürfnis, ihm zuvorzukommen, ihn abzulenken. Deshalb erkundigte ich mich bei ihm, was denn am Wochenende geschehen sei. Gsella gab einen unverständlichen Laut von sich und schien einzuschlafen. Unbeweglich und stumm saß er da. Nachdem ich seinen Berliner Ballen verspeist hatte, stand ich vom Tisch auf und verließ das Büro. Inzwischen war schon die Polizei da, um Gsella abzuholen. Da ich neugierig war, blieb ich und beobachtete den Vorgang. Der Hauptwachtmeister hatte aus mir unbekannten Gründen etwas gegen die Oberbekleidung, die Thomas Gsella als Chefredakteur trug. Daher riß er sie ihm vom Leib (wovon Gsella unsanft erwachte) und hielt ihm völlig fremde Sachen hin. Die wollte Gsella aber nicht anziehen, da konnte der Hauptwachtmeister betteln, so viel er wollte. "Ziehen Sie das doch bitte an", versuchte es seine Kollegin. Weil Gsella aber nach wie vor nicht daran dachte, die fremden Kleidungsstücke anzulegen, wurden dieselben in eine blauen Müllsack gesteckt, um anschließend mitgenommen zu werden. Für den nur mit Unterwäsche Bekleideten liehen sich die Polizisten von mir einen weißen Kittel aus. "Gegen den können Sie doch wohlnichts einwenden", versuchte der einfühlsame Beamte den Chefredakteur zu überreden. "In Unterhose können Sie schließlich nicht gut auf die Straße. Und auf Socken werden Sie doch auch nicht laufen wollen, oder? Passen Sie auf, wir legen die fremden Schuhe mit Papiertüchern aus, dann geht’s." Das ließ Gsella widerwillig gelten, und wir gingen alle in den Ort. Die Pizzeria war durchgehend geöffnet, so daß man auch um sechzehn Uhr ein warmes Gericht bekam.
(Keine Fortsetzung beabsichtigt.)