Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Er ist Gechichte
Mit Helmut Kohl ist „ein großer Europäer“ (Angela Merkel, Focus online, Sigmar Gabriel, SZ, „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, Jean-Claude Juncker, Cem Özdemir, ZDF u.v.a.) von uns gegangen, dessen Vision von einem europäischen Deutschland „ein Vermächtnis an die deutsche Nation und an ganz Europa“ sei, wie einer gesagt hat, der den Unterschied zwischen einem europäischen Deutschland und einem deutschen Europa sowenig kennt wie den zwischen einem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und einem, der nicht gelernt hat, Vermächtnisse an die deutsche Nation rechts liegen zu lassen. Chulz hätte auch sagen können, er melde vor der deutschen Geschichte den Eintritt ihres Größten in das Reich des Herrn.
Es ist eine gut bekannte Tatsache, daß den „großen Staatsmann“ (Zeit online, Annegret Kramp-Karrenbauer, Sigmar Gabriel, SWR, Henriette Reker, Frank-Walter Steinmeier, Volker Bouffier, Wiesbadener Tagblatt u.a.m), politisch angeschlagen, wie er 1989 war, allein der Fall der Mauer gerettet hat (und, glauben wir Heiner Geißler, die Intervention der Deutschen Bank). Daß er diesen Fall wie kein zweiter zu nutzen verstanden habe und den Mantel der Geschichte im entscheidenden Moment ergriff, wird nur der nicht bejubeln, dem die deutsche Nation am Podex vorbeigeht und der überdies Schwierigkeiten hat, sich vorzustellen, irgend etwas wäre 1989ff ohne Kohl anders gelaufen, als es gelaufen ist. Kohl hat es, in einem späten Interview, selbst gesagt, daß die Sowjets aus dem letzten Loch pfiffen und eine DDR hergaben, die sie nicht mehr finanzieren wollten oder konnten (der Anfang vom Ende waren zwei Millionen Tonnen Erdöl, die die UdSSR ab 1981 nicht mehr lieferte), und er war der Mann, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und Gorbatschow die DDR gewissermaßen abkaufte, für 15 Milliarden D-Mark. Seine Strickjackendiplomatie mochte die Hoffnung nähren, das neue Deutschland werde ebenfalls ein gemütliches.
„Geschichte ist nur das, was in der Entwicklung des Geistes eine wesentliche Epoche ausmacht.“ Hegel, 1805
Dieses Deutschland, als es dann da war, war eines, das seinen östlichen Teil dem westlichen zur Ausplünderung überließ, begünstigt durch die Währungsunion, die, trotz verzweifelter Warnungen von Fachleuten, auf Kohls Drängen einen Umtauschkurs von 1:1 vorsah und damit auf einen Schlag die DDR-Industrie ruinierte, die ihre Produkte zum regulären Westpreis nicht mehr loswurde. Als, auch deshalb, dann die Asylantenheime und Häuser türkischer Familien brannten, „hat Kanzler Kohl sich an diesen Tatorten leider nicht sehen lassen“, und der nächste Pressepreis gehe an H. Prantl für dieses „leider“, in Prantls Nachruf auf den „großen Instinktpolitiker Helmut Kohl“. Dessen Instinkt ihm halt sagte, daß seine Bundesdeutschen, die neuen noch weniger als die alten, ihr Deutschland nicht als Einwanderungsland begriffen, was er ja ebensowenig tat, er, der Ende ’89 in Dresden davon sprach, man sei jetzt wieder so etwas wie eine große deutsche Familie; und halt keine ausländische.
Für einen Staatsmann hat Helmut („Weiter so!“) Kohl innenpolitisch wenig hinterlassen, wenn man von den Folgen seines Umtausch-Befehls absieht (die ostdeutsche Wirtschaftsleistung liegt nach wie vor nur bei 70 Prozent der westlichen), seinem legendären Besuch auf dem SS-Friedhof, seiner Haltung zu Parteispende(r)n und der geistig-moralischen Vorbereitung dessen, was heute, zwischen „Famillje“, Leistungsfetisch und Privatfernsehen, neues Biedermeier heißt: „Von der Birne heiß / rinnen muß der Schweiß / Ist der Feierabend da / Hausschuh Marke Romika“ (Gremliza, 1982). Außenpolitisch ist Osteuropa deutscher Hinterhof und leidet der Westen unterm Euro, der es unmöglich macht, die deutsche Wirtschaftsmacht per Abwertung der nationalen Währung zu unterlaufen. Privat hatte sich der legendäre Männerfreund Kohl zuletzt mit so gut wie allen seinen Männerfreunden (wie auch seinen Söhnen) zerstritten, und mit derart hölzernen Worten, wie sie Theo Waigel im Heute-Journal sprach, der als einer der letzten beim Altkanzler gelitten war, möchte ich jedenfalls nicht verabschiedet werden.
Daß Helmut Kohl Dutzende unvergeßlicher TITANIC-Titel stimuliert hat, bleibt sein historisches Verdienst.