Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Vom Murmeltier
Nichts ist so von gestern wie die Zeitung von heute; was aber nichts macht, wenn sowieso immer dasselbe drinsteht: „Die Aufstiegschancen von Menschen, die von Armut bedroht sind oder als arm gelten, sind in Deutschland weiter zurückgegangen. Gleichzeitig ist für Wohlhabende das Risiko gesunken, finanziell abzusteigen. Das geht aus dem neuen Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. ,Arm bleibt arm, und reicht bleibt reich – das gilt aktuell noch deutlich stärker als vor 20 Jahren’, sagte die Autorin der Untersuchung, Dorothee Spannagel … An diesem Trend habe sich auch zuletzt trotz Rekordbeschäftigung und höherer Löhne nichts geändert, vermutet Spannagel. Der internationale Vergleich zeige, daß in fast keinem anderen Land die Chancen so stark von der Herkunft beziehungsweise vom Elternhaus abhingen wie in Deutschland. So hätten Kinder von Akademikern die besten Chancen, wieder Akademiker zu werden. Die Schule funktioniere dabei wie eine ,große Sortiermaschine’.“ Usw.
Wie oft haben wir das schon gelesen? Wie oft habe ich derlei schon zitiert? Wie oft werden wir das noch lesen müssen? Wo es doch dauernd in der Zeitung steht? Sollte es sich da nicht ändern, längst geändert haben? Oder ist gerade der Umstand, daß es so wunderbar kritisch und freiheitlich in der Zeitung steht, die Voraussetzung dafür, daß es so bleibt und bleiben kann?
„All the truth in the world adds up to one big lie“ Dylan, 1999
So grüßt das Murmeltier weiter täglich: „Freihandel zwischen ungleichen Partnern ist ungerecht“, lesen wir ein paar Tage später im nämlichen Blatt. „In den vergangenen Jahrzehnten mußten afrikanische Staaten schon mehrfach dem Freihandelsdruck von Geberländern und Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nachgeben. Stück für Stück öffneten sie ihre Märkte und privatisierten staatliche Unternehmen. Das Ergebnis kann man in jeder gut sortierten afrikanischen Markthalle sehen: Kleidung aus China, Reis aus Vietnam, Instantkaffee und Milchpulver der Schweizer Firma Nestlé, Tomatenmark aus Italien – alles Produkte, die auch aus Afrika kommen könnten. Doch wer kauft Tomaten aus Ghana, wenn er haltbares und billiges, weil subventioniertes, Tomatenmark aus Europa haben kann? … So kommt es, daß kaum eines der Industrieunternehmen, die es in Afrika gegeben hat, noch existiert. Fast alle Staaten des Kontinents leben vom Export unverarbeiteter Rohstoffe – und nehmen damit die schwächste Position im globalen Handelsgefüge ein. Die neuen Abkommen zwischen Europa und Afrika würden diese Situation noch verschärfen. Und damit die Projekte ad absurdum führen, die Merkel in Mali und Niger versprochen hat.“
In noch einmal derselben Zeitung freut sich im Kommentar des Chefredakteurs ein Zwischentitel über Dylans Nobelpreis als „späten Sieg der 68er“: „Seine Verse, seine Songs trugen entscheidend dazu bei, daß aus der Attitüde des Protests ein Lebensgefühl wurde, das bei vielen der damals 24jährigen anhält, mindestens aber nachhallt“. So wie bei Kisters Kurt, der es für kritischen Journalismus hält, heute noch nicht zu wissen, was morgen im Leitartikel steht. Die Selbsttäuschung darüber ist aber bloß der Sieg eines Lebensgefühls, das, wenn Sie mich fragen, schon längst ein wenig hallt.