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Gärtners kritisches Buchmessensonntagsfrühstück: Außer Lesen nichts gewesen

„Immer mehr Menschen ...“ – fängt ein Zeitungssatz so an, folgt selten Gutes. Dann folgt nämlich ein Trend. „Immer mehr Menschen klagen, sie könnten sich nicht mehr auf ein gutes Buch konzentrieren. In der ,Slow Reading’-Bewegung trifft man sich daher zu einem stillen Stündchen ohne digitale Ablenkung“. Und zwar, versteht sich, in einem Café, damit noch jemand Geld daran verdient, daß moderne Menschen nicht in der Lage sind, irgend etwas zu betreiben, ohne daß es ein Service ist oder Eventcharakter hat. Der möglichst auch noch Geld kostet, denn was nichts kostet, ist nichts wert.

Nun hat es also auch das Lesen erwischt, zu dem man die „zwischen vielen abendlichen Internetstunden und vierhundert amerikanischen Qualitätsfernsehserien“ eingeklemmten Großstadtbewohner ans Gängelband nehmen muß, weil sie nämlich „selbst keine Lücke mehr finden für etwas, das sie eigentlich wahnsinnig gerne tun oder getan haben, nämlich gute Bücher zu lesen … In den zehn Tips, die der Slow Reading Club im neuseeländischen Wellington Neueinsteigern an die Hand gibt, heißt es denn auch, man solle vor Beginn der Lektürestunde die Augen schließen und fünfmal tief durchatmen.“ Da atme ich jetzt einmal tief durch, bevor ich 1. der SZ den „Neueinsteiger“ als Doppelmoppel hinreibe und 2. der Überzeugung Ausdruck verleihe, daß, wer zum Lesen besondere Umstände braucht, die über Ruhe und eine Kanne Tee hinausgehen, es auch bleiben lassen kann. Wie vielleicht überhaupt einmal eine Lanze wider das Lesen gebrochen werden muß. Schon gar wider das Lesen „guter Bücher“.

„Beim Ferienleseclub fängt schon bei Einigen der Endspurt an, da wird jeden Tag gelesen, damit noch Silber oder Gold erreicht wird. 80 Kinder und Jugendliche haben sich angemeldet und weit über 300 Bücher wurden schon verschlungen und abgefragt; die Kissen im Strandkorb sind von den vielen Gesprächen schon platt gesessen.“ Gemeindebücherei Gettorf/Schleswig-Holstein, 2014

Denn Lesen, die einsame Lektüre, der Rückzug ins Kämmerchen, aufs Sofa, auf die Wiese oder egal wo in den Schmöker ist doch per se (und sei’s ungewußter) Widerstand gegens drängend-fordernd Allgemeine, Gesellschaftliche, darin Autoritäre, und die Urerfahrung der Lesenden ist, daß sie nicht zum Abendbrot kommen kann, ehe sie weiß, ob Kalle Blomquist noch der rettende Einfall kommt; wie der früheste intellektuelle Widerstand jener ist, der sich als heimliches Lesen unter der Bettdecke äußert. Es wird schon da verkehrt, wo die Mittelschicht, auch hierin hysterisch, die „Leselust“ ihrer Kinder fördert und Kulturreferate (wirklich wahr) Urkunden vergeben, die ausdrücklich die Masse der in den Sommerferien gefressenen Bücher würdigen; und gleichzeitig ist jeder fünfte Fünfzehnjährige funktionaler Analphabet und wird alles dafür getan, den freien Geist möglichst zu behindern, ihn mit Kompetenzen abzufüllen und zur unkritischen Hinnahme von Vorgekautem abzurichten; und bereitet Bertelsmann (wer sonst) längst die Duchdigitalisierung der Klassenzimmer vor. Gegen die dann eine sog. Slow Reading-Bewegung zum „guten Buch“ zurückführen kann, damit das juste milieu dieses zentralen Distinktionsmittels nicht verlustig gehe: Denn so wie Ahmet nicht liest, liest Charlotte selbstverständlich, und was das gute Buch sei, erklärt ihr Volker Weidermann.

Man lese alleine; man schere sich nicht um Kanons, Urkunden, Atemübungen. Und man vergesse nicht, daß das spezifische Unglück des Vaterlandes nicht zuletzt daher rührt, daß sein Bildungsbürgertum lieber den Kopf in den Bücherwolken hatte, als mal seinen Monarchen heimzuleuchten. Ein Bücherwurm sein, als Existenzideal: prima. Als gesellschaftliches Leitbild: verdächtig. Und jedenfalls verlogen.

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: E pluribus unum

Es gibt, das war die Maxime meines seligen Vaters, immer zwei Möglichkeiten, und die eine Möglichkeit, die Sache zu betrachten, ist natürlich die preßnotorische, die darauf angewiesen ist, daß Streitereien sich zuspitzen, idealerweise dramatisch zuspitzen: „Der Streit um den richtigen Weg in der Flüchtlingspolitik spitzt sich zu. Die CSU attackiert Merkel. Die SPD distanziert sich. Die Kanzlerin steckt im Dilemma und muß nun endlich mehr tun, als das Land zu Optimismus zu ermahnen.“ Findet, für viele, der Netz-Focus: „Es wird einsam um Angela Merkel. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer attackiert die Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik bereits seit einem Monat. Wenn jetzt Finanzminister Wolfgang Schäuble in Paris erklärt, es sei unmöglich, daß Deutschland in einer Woche so viele Flüchtlinge aufnehme wie Frankreich in einem Jahr, ist das nicht ausschließlich eine Kritik am westlichen Nachbarn … Doch damit nicht genug. Nun setzt sich auch der Koalitionspartner ab. Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier fordern eine Begrenzung der Zuwanderung – und damit das Gegenteil von dem, was Merkel in ihrem viel beachteten Interview dieser Woche gesagt hat. Deutlicher kann man die Botschaft vom ,Wir schaffen das’ nicht in Zweifel ziehen.“

„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr ... und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“ Schiller, 1804

Die andere, kritische Möglichkeit wäre freilich, das inter- (und intra-)fraktionelle Gezeter nicht als Anfang vom Ende der Ära Merkel zu interpretieren, sondern als Aufführung des Stückes „Das großkoalitionäre Deutschland in der Flüchtlingskrise“, ein Stück, das nicht nur die Pluralität simuliert, die in jenem Deutschland der Ewigen Großen Koalition eher prinzipiell als faktisch existiert, sondern auch in der konkreten Frage nach dem richtigen Umgang mit der großen Zahl Flüchtlinge dem Staatswohl ungemein dienlich ist: Während Frau Bundeskanzlerin per „Wir schaffen das“-Dekret das schönste Gesicht des Kapitalismus gibt, stänkert Horst Seehofer, um wie weiland Franz-Josef Strauß den rechten Rand zu binden: Notstand, Stacheldraht, Bundeswehr, diese Tour. Zwischen beiden: der Wirtschafts- und der Außenminister, die im Spiegel zum „Maßhalten“ (Degenhardt, Notar Bolamus) aufrufen und sich exakt zwischen Merkel und Seehofer positionieren: „Wenn sich aber die Debatte nur noch zwischen den medial zugespitzen ,Wir schaffen das’ und ,Das Boot ist voll’ bewegt, dann droht die Frage unsere Gesellschaft zu zerreißen.“ Womit alle denkbaren Standpunkte bedient wären, und das alles innerhalb der regierenden Koalition.

Es ist dabei gar keine Frage, daß der mittlere Standpunkt: „Wir können nicht dauerhaft in jedem Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge aufnehmen und integrieren“ die Debatte im weiteren bestimmen wird; Merkel sagt ja auch nicht das Gegenteil; und nicht ohne frivole Lust berichtet die Tagespresse von wg. Flüchtlingsandrang gekündigten deutschen Mietern, die aus ihren kommunalen Wohnungen fliegen. Der „Überdruß an unserem Sommermärchen“ (Gremliza) wird kommen (sofern er nicht schon da ist), und nachdem die Deutschland AG von ihrer Herzlichkeit über die Maßen profitiert hat, folgt jetzt, was sonst, der Rückzug. Und daß es ein orchestrierter ist, wird nur der überhören, der mit schrillen Tönen sein Geld verdient. (Ein Satz wie aus der Zeit; ich mache mich!)

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: L'état et moi

„Wer ist wir? Ich nicht!“ – ich zitiere dieses goldene, dieses Poltsche Jahrhundertwort evendöll zu Tode, aber einmal im Jahr, wenn der Einheitsquatsch und -wahnsinn rollt, kann ich es gar nicht vermeiden.

Daß wir nämlich „vereint, aber nicht eins“ wären, wußte bereits im Februar eine nationale „Großstudie“ (Süddeutsche Zeitung), was, wenn man nur ein wenig darüber nachdenken mag, die Frage aufwirft, was diesseits der NSDAP daran erstrebenswert sein soll, als „Volk“ (Reinhard Müller, FAZ) unbedingt „eins“ zu sein. Der Angelsachse versteht das genausowenig; in seiner Sprache ist das, was bei uns „Volk“ ist, schlicht the people, im Plural, und wenn aus vielen eins wird, e pluribus unum, dann mit Blick auf den Verfassungsvertrag, auf den sich geeinigt zu haben das Kollektiv statuiert. In „unserem Land“ (Bild, kostenlose Einheits-Sonderausgabe, „Auflage: 42 Millionen“) ist das Kollektiv, wenn wir in Rechnung stellen, daß der Nationalfeiertag die kollektive Tatsache als solche feiert, dagegen Selbstzweck: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Warum auch immer.

Abgesehen davon, daß derlei pathetisches Nationalgegrunze immer schon eine Lüge ist, weil es sehr große Brüder und sehr kleine Schwestern gibt und die großen Brüder mit den Fabriken die kleinen Schwestern in den Blaumännern zum Stempeln schicken, wenn die Aktionäre das wollen – ganz abgesehen von dieser Binsenwahrheit also: Ist der Wunsch, es sollten alle eins sein, nicht das glatte Gegenteil von Demokratie? Ist er nicht das Gegenteil der Behauptung, das Land sei ab sofort „bunt“? Hat nicht irgendein Soziologe eben irgendwo geschrieben, in Einwandergesellschaften wie den USA lasse man die Einwanderer nach ihrer Fasson selig werden und setze sie nicht unter den stillen Druck, sie müßten eins werden? „Wie WIR wieder WIR wurden“ (Bild): ist das nicht völkische Scheiße, mindestens autoritäre Anmaßung? Und wäre das einig Volk von Deutschen (oder sonstwem) nicht ganz sinnlos, wenn es kein Draußen gäbe, wider welches ein Kollektiv in Stellung gebracht werden kann?

„Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.“ Hitler, 1938

Ich bin nicht wir. Ich bin nicht eins mit Springer. Ich bin weder eins mit Springers Alexander von Schönburg und der grotesken Lüge, es sei „sehr deutsch …, sich seiner Vergangenheit [zu] stellen, Verantwortung [zu] übernehmen“, noch mit der Unzahl „Prominenter“, die sich wie stets dem allervulgärsten volksgemeinschaftlichen Bedürfnis andient, noch mit Hellmuth Karasek, der in seinem kurz vor Ultimo verfaßten Literaturkanon („25 Bücher auf deutsch, die jeder gelesen haben sollte“) nicht einmal „Buddenbrooks“ richtig schreibt („Die Buddenbrooks“). Ich bin nicht eins mit den kranken Rasern in ihren kranken Panzern, die mich und andere von der Autobahn drängeln, ich bin nicht eins mit dem Pöbel, der, wenn er nicht gerade Panzer fährt, seine Satisfaktionsbedürfnisse „schichtenübergreifend“ (SZ) an wehrlosen Dienstleisterinnen befriedigt: „Fast-Food-Mitarbeiter beschreiben … eine Zunahme der Pöbelei. Eine ehemalige Aushilfskraft eines McDonald's-Restaurants in Donauwörth erzählt, wie Kunden ihre Softdrinks über den Tresen verschütten und brüllen, weil sie mitten in der Nacht kein Eis mehr kaufen können. Die Auszubildende einer Berliner Filiale von Burger King berichtet, Gäste in Warteschlangen würden rasch ausfällig: ,Willste mich verarschen, du Olle.’“ Und ich bin mit niemandem eins, der eine „Nation“ (Focus) benötigt, weil er spinnt oder einen Vorwand braucht, andere für sich springen zu lassen.

Denn – es ist ganz einfach –: Niemand ist „wir“, der kein Faschist ist. Ich wünsche einen individuellen Sonntag.  

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: An der Grenze

Das Auffällige an dieser meiner Arbeit ist, wie unoriginell sie sein kann, und zwar, weil Originalität schlicht nicht nottut. Was mir zu den amüsanten Abgasgaunereien des VW-Konzerns (und höchstwahrscheinlich anderer) eingefallen ist, ist auch der Kundschaft der ja durchaus nicht überragend schlauen Süddeutschen Zeitung aufgefallen: „Es ist schon erstaunlich, daß der Aufschrei nach Bekanntwerden der manipulierten Abgaswerte von Dieselfahrzeugen so groß ist. Wie sieht es denn mit den … Verbrauchswerten aus? In der Praxis werden die Angaben zum [V]erbrauch … um rund ein Drittel überschritten. Hieran scheinen jedoch weder die Käufer noch die Medien Anstoß zu nehmen.“ – „In Deutschland tanzen die Politik und die Umweltbehörden nach der Pfeife der Autoindustrie … Die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß wurden nach ihren Wünschen festgelegt. Ist es bei so viel legalisierter tricksender Gestaltungsfreiheit verwunderlich, daß … VW-Manager glauben, sie könnten mit US-Umweltbehörden und den politisch Verantwortlichen genauso verfahren wie mit den deutschen … ?“ – „… wundere ich mich über diejenigen, die sich in aufgeregter Weise erstaunt zeigen ob der üblen Machenschaften der Automobillobby. Seit Jahrzehnten gewährt man diesem Goldenen Kalb der Deutschen, insbesondere durch die Politik, absolute Narrenfreiheit.“ Usw.

„Die Beispiele von Ehrlichkeit, denen man in dieser Welt begegnet, sind ebenso erstaunlich wie die Beispiele von Unehrlichkeit.“ Ford Madox Ford, 1915

Bzw. wohl wahr; und wird aber auch die SZ nicht müde zu unken, das Wohl und Wehe der „deutschen Wirtschaft“ insgesamt stehe auf dem Spiel, weil bekanntlich jeder siebte deutsche Arbeitsplatz am Automobil hängt; und möchten wir uns wiederum erkundigen, ob die Frage nach irgendwelchen Stickoxiden und der Sauberkeit sog. „Clean Diesel“-Fahrzeuge nicht sowieso falsch gestellt ist, wenn die Stick- und vielen anderen Oxide, die bei der Herstellung eines solchen Ökoautos anfallen, gewohnheitsmäßig unter den Tisch fallen. (Verbraucht ein Neuwagen zwei Liter weniger als der alte, muß er 200 000 Kilometer zurücklegen, bis der Energieeinsatz bei der Produktion wieder drin ist.) Die Grenzwerte, um die sich VW (nebst höchstwahrscheinlich vielen anderen) herumgeflunkert hat, gaukeln eben jenen „nachhaltigen“ Konsum vor, den es in kapitalistischer Großwirtschaft nicht geben kann: Wird im Auto, zum Beispiel, Aluminium verbaut, damit es leichter werde, ist dieser Vorteil da, wo das Aluminium unter eminentem Energiebedarf und Schadstoffausstoß geborgen und produziert wird, längst zunichte geworden. Davon steht in der Motorpresse freilich nichts, und davon schweigt ausnahmslos jeder Politiker, der über die IAA spaziert und die „tollen Autos“ (Gabriel) lobt.

Der „gigantische Betrug“ (SZ) steckt mithin eher da, wo die Begriffe „Auto“ und „sauber“ miteinander vermählt werden. Das Auto (wie das jährlich frische Smartphone, nebenbei, auch) ist per se ein Schädling, und wer Auto fährt, weil er's gern tut, weil es praktisch ist oder aus aus sonst irgendeinem wichtigen Grund, der muß das so akzeptieren, wie daß für sein Salamibrot ein Schwein vergast wird. Daß VW (auch im strafrechtlichen Sinne) betrogen hat, ist das eine; daß die Rede von „nachhaltiger Individualmobilität“ der viel größere, folgenschwerere Betrug ist, das andere; und das dritte, daß, kommt man aus dem Urlaub zurück und überquert die Bundesgrenze, auf der Stelle die pathologische, mörderische Raserei übermotorisierter Kranken-Wagen wieder angeht. Wird das nicht abgestellt (oder wenigstens nach Kräften behindert), ist jeder Grenzwert für einen 400-PS-Touareg nur Augenwischerei und jeder Trick, ihn einzuhalten, bloß emblematisch. Wo nicht gar ehrlich.

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Normale Härte

Es ist so eine Sache mit dem Rechthaben: Einerseits hat man es gleich gewußt, schön. Andererseits hat man es geahnt, furchtbar: „Regierung plant schärferes Asylrecht … Die Bundesregierung plant die schärfsten Leistungseinschränkungen für Flüchtlinge, die es in der Bundesrepublik je gab: Sogenannte Dublin-Flüchtlinge sollen nur noch eine Rückfahrkarte und eine Wegzehrung erhalten – und so veranlaßt werden, sich wieder in den Staat zu begeben, den sie in der EU zuerst betreten haben. Sie werden künftig ,ausschließlich eine Reisebeihilfe zur Deckung des unabweisbaren Reisebedarfs’ erhalten. Sie sollen auch keinen Anspruch auf ein Bett oder ein Dach über dem Kopf haben, auch nicht auf medizinische Betreuung in Deutschland. Das Asylbewerberleistungsgesetz wird für sie quasi abgeschaltet.“

Pfarrer H. Prantl konnte es in seiner Süddeutschen nicht fassen: das „Septembermärchen“ (Katrin Göring-Eckardt, gewohnt dumm) schon wieder vorbei? Refugees doch nicht so welcome? Oder nur ganz bestimmte? Nämlich solche, die Kapital bilden helfen, insonderheit moralisches? Das größtherzige Land auf Erden – jetzt wo es installiert ist und die Weltpresse vor Begeisterung Tränchen zerdrückt, kann die „moralische Großmacht“ und „Hegemonialmacht der europäischen Werte“ (Thomas Steinfeld im Feuilleton zehn Seiten weiter) diese Werte wieder nach allgemeiner Auffassung interpretieren: „Das geplante Recht kennt weitere Verschärfungen: Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten (auch Albanien, Kosovo und Montenegro sollen dazu zählen) müssen statt drei künftig bis zu sechs Monate im Aufnahmelager bleiben. In dieser Zeit sollen sie kein Bargeld, sondern nur Sachleistungen erhalten. Ein Teil der Flüchtlinge, die bisher eine Duldung erhalten haben, weil sie nicht abgeschoben werden können, bekommt einen noch wackeligeren Status – den ihnen eine neue ,Bescheinigung über die vollziehbare Ausreisepflicht’ attestiert. Menschen mit diesem Papier darf ,Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden’. Der Übergang von der Duldung in einen legalen Aufenthalt, der bisher dank Kirchen, Gewerkschaften und Unternehmen gelingen konnte, wird in diesen Fällen künftig unmöglich sein: ohne Arbeit keine Stabilisierung des Aufenthalts“ (Prantl).

„Das ist normal, stinknormal, aber ganz schön hart“ Rodgau Monotones, 1984

Überraschend ist das alles kaum; bereits Anfang Juli, als Wogen der Hilfswut das Land durchspülten, konnte der Bundestag eine erste Verschärfung des Asylrechts beschließen, die es erlaubt, Asylsuchende zu inhaftieren, auch ohne daß sie dafür Kekse klauen müssen, und der Innenminister sprach ausdrücklich von „Härte“, die nötig sei, um „die Zustimmung zur Zuwanderung und der Aufnahme von Schutzbedürftigen in Deutschland zu sichern“. Keine Zustimmung ohne Härte, keine Härte, andersherum, ohne die Jubelmünchner am Hauptbahnhof, deren Geste, leider, gleichzeitig die nationale Tat war, die einem sich verschärfenden Asylregime den Rücken freihält.

Daß auch der sog. Wirtschaftsflüchtling ein politischer ist, weil niemand seine Armut verschuldet hat, schrieb F.C. Delius vor dreißig Jahren in seinen Roman „Adenauerplatz“ hinein (und die SZ, ganz linksliberales Gewissen, stand nicht an, darauf hinzuweisen); und es ist kein unperfider Nebeneffekt der kanzlerinnenseitigen Wir-schaffen-das-Großzügigkeit, über den unermeßlichen Imagegewinn hinaus, daß der Armutsflüchtling jetzt erst recht keine arme Sau mehr ist, deren Pech, an der Peripherie geboren zu sein, uns Metropolenbewohner und „selbstlose Patrioten“ (Steinfeld) irgend etwas angehen müßte.

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Durch die Wüste

Neulich schrieb ich, daß in den Zeitungen immer die Wahrheit stehe, und daß jene Landsleute, die von „Lügenpresse“ schäumen (und mit denen eine Ansicht zu teilen ja auch gar nicht in Frage kommt), unrecht haben. Ich darf diese Ansicht erweitern: Konträr zur gängigen Vorstellung lügt auch die Werbung kein Stück. Auch sie sagt schlicht die Wahrheit.

Im neuen Spot der Autofirma Audi („Vorsprung durch Technik“) fährt ein Audi durch quasiapokalyptisches Wüstenland. Der Audi, man sieht es kurz, fährt 80, denn Audifahrer fahren zwar Audi, aber aus Vernunft, und wenn sie es auf der Autobahn hinter mir so oft sehr eilig haben, dann gibt es auch dafür vernünftige Gründe. Jedenfalls blinkt es plötzlich im Armaturenbrett: Service! Zeit, eine Werkstatt aufzusuchen, zwecks Inspektion; aber nicht bei den Wüstenbewohnern in Blaumann und Holzfällerhemd, die jetzt aus den Verschlägen lugen, die hier wohl für „Werkstätten“ gelten. Der Audi, sichtlich aus einer anderen Welt, schnurrt vorbei. Doch die staubigen, schmutzigen Mechaniker, die alle so aussehen, als hätten sie schlechte Zähne, lassen sich das natürlich nicht bieten, daß da so ein Schnösel mit seinem blinkenden Audi durch ihre Wüste fährt und gar nicht daran denkt, den nächstbesten Prolo Hand ans teuer erworbene Gefährt legen zu lassen.

Und jetzt stürmen sie aus ihren Verschlägen, die Schraubenschlüssel noch in der Hand, und jagen dem Audi hinterher, zu Fuß, in Pickup-Trucks, sie werden zur Horde, fallen übereinander und über ihre Füße, greifen, langen, grapschen nach dem Audi, sie werden immer mehr, eine Masse, ein Brei, eine Flut von Menschen (oder Menschenartigen), die sich final am gläsern-aseptischen Audi-Service-Zentrum bricht, in das der Audi lautlos einfährt. Hinter ihm senkt sich das Tor. Die (Unter-)Menschen, Tausende, branden dagegen, prallen ab. Wir, als potentielle Kunden, dürfen natürlich mit hinein und sehen, wie sich die Menschen an der Glasfront die Wangen und Hände plattdrücken. Darüber der Claim: „Damit Ihr Audi nicht in falsche Hände gerät.“ Dann geht, in hochreiner Umgebung, der schnieke Fahrer zum schnieken Service-Mann. Ende.

„Die von vornehmen Vätern abstammen, achten und verehren wir, die dagegen nicht aus vornehmem Hause sind, achten und verehren wir nicht. Hierbei verhalten wir uns zueinander wie Barbaren, denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen.“ Antiphon, 5. Jh. v.u.Z.

Das fanden immerhin auch einige Youtube-Nutzer „widerlich“, wobei es eher um die Ehre des gemeinen Kfz-Schlossers ging als um die plane Allegorie, die Audi hier inszeniert und die allenfalls darum nicht widerlich ist, weil sie stimmt: das saubere kapitalistische Produkt gegen die schmutzige Armut, unser Wohlstand gegen Ansprüche von außen, die Gated Community/Festung Europa als selbstverständlich in Anspruch genommener Zufluchtsort der Zivilisation gegen den Pöbel, der gegen ihre Grenzen drängt. Etwas weniger spektakulär und ohne Flüchtlingsbezug: Die Proletarier, die den Luxus zusammenschrauben, dürfen ihn hernach nicht einmal anfassen, und jene, die ihn genießen, geben in ihrer äußersten Herablassung und Selbstgewißheit nicht einmal Gas, wenn die Asozialen Ansprüche anmelden: Diese Barbaren können uns gar nichts.

Das ist natürlich nur dann der reine Zynismus, wenn wir hier Absicht unterstellen. Ich unterstelle, daß die kreativen Kreaturen, die das auf den Bildschirm gestemmt haben, keine Sekunde lang den Argwohn hegten, sie könnten hier, wie ein Youtube-Kommentar fand, „Menschengruppen verächtlich“ gemacht haben. Haargenau so geht schließlich Kapitalismus; und seit wann ist der menschenfeindlich?

Liebe Leserin, liebe Leser, Ihr „Sonntagsfrühstück“ macht Urlaub und ist ab dem 20. September wieder für Sie da.

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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Designerstaat mit Einbauküche

Wenn der Tag lang ist und die Wochenendausgabe der superliberalen Zeitung dick genug, kann man, so ca. auf S. 45, ganz erstaunliche Dinge lesen: „Schon 2011 schrieb ausgerechnet der autorisierte Biograph Margaret Thatchers, Charles Moore: ,Ich beginne zu glauben, daß die Linke recht hat.’ Eines der großen Argumente der Linken sei ja, so Moore, ,daß das, was die Rechte den freien Markt nennt, ein ziemlicher Schwindel ist’. Die Reichen betrieben ,ein globales System, das ihnen erlaubt, Kapital anzuhäufen und geringstmöglichen Preis für Arbeitskraft zu bezahlen. Die einfachen Leute müssen härter arbeiten zu Bedingungen, die täglich unsicherer werden, um die Reichen reicher zu machen. Die Demokratie, die ja eigentlich Wohlstand für viele bringen soll, ist in der Hand der Banker, Medienbarone und anderer Mogule, denen alles gehört.’ Da kann man sich, wie Moore, schon fragen“, und der Autor Sebastian Schoepp tut es denn auch: „Bin ich etwa links, wenn mir diese These nicht unplausibel erscheint?“

Dies also die Sorgen unseres Linksliberalismus, der zwar nicht mehr übersehen kann, daß die Regierung keine of the people, for the people and by the people ist, den Anschluß an den Mainstream aber vorsichtshalber nicht verlieren will und deshalb – „Hilfe, bin ich links?“ – das Offensichtliche für evtl. nicht unplausibel hält. Denn „auf Partys in deutschen Designerküchen wird man immer noch angeschaut, als wäre man Rudi Dutschke, wenn man sich als Griechenlandversteher outet“. Was daran liegen mag, daß es in einer Ordnung, die die „Auflösung von Politik in Marktkonformität“ (Habermas) unterbindet, es mit den Designerküchen u.U. vorbei ist. Das macht dann angst.

„warum? / ist doch falsch“ Rainald Goetz, 2007

Und darum ist klar, worauf das alles hinausläuft: auf die Restitution des rheinischen Kapitalismus, der „sozialen Marktwirtschaft“, auch wenn die dann neuerdings „Post-Kapitalismus“ heißt. Der „europäische Sozialstaat“ soll wieder her, den Bourdieu eine „so unwahrscheinliche und schöne Errungenschaft wie Beethoven, Kant und Mozart“ genannt habe und der aber, wir wissen es, ohne Sozialismus nicht funktionieren kann, und sei es auch nur ohne einen konkurrierenden. Im „alternativlosen“ Kapitalismus ist der gute alte Sozialstaat nicht einmal als patriarchale Maßnahme denkbar, „um das Volk ruhig zu halten“, denn dann geht das Kapital woanders hin, und die Demokratie ist machtlos, denn sie ist die Funktion des Kapitals, nicht umgekehrt. Da den Kapitalstaat, und sei’s der Küchen wegen, aber niemand abschaffen will, sollen wir ihn nun wieder mal gemeinsam „reformieren, dynamisieren, ihn mit neuen Werten und Verhaltensweisen anreichern“, um „die soziale Marktwirtschaft … zu bewahren. Wenn das radikal ist – meinetwegen.“

Radikaler geht’s nicht: Eine dreivierteltote Sozialmarktwirtschaft bewahren und den Kapitalismus moralisch anreichern, damit er wieder so aussehe wie in meiner „Ein Fall für zwei“-DVD-Box 1983ff, als im Taunus die Villen standen und die Arbeiter müde in der Kneipe saßen, weil sie hart arbeiten mußten, um die Reichen noch reicher zu machen. Abgesehen davon, daß dieser Kapitalismus ohne neue Oktoberrevolution nicht kommen wird, wäre auch er einer der Medienmogule und ihrer Journalisten. Bloß Hartz IV, diese Angstgeißel des Bürgertums, gerade des griechenlandverstehenden, gäbe es dann nicht. Und das ist, Hilfe!, ein guter Grund, mal so richtig radikal zu werden.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Danke, »Zeit«,

für Deinen Artikel mit dem Titel »So gefährlich sind Blitze«! »Gewitter können tödlich sein« heißt es weiter im ersten Satz. Na, dann werden wir die als harmlos eingeschätzten Lichtspiele in Zukunft deutlich kritischer beäugen! Wir freuen uns auf weitere nützliche Artikel von Dir wie »Lava – warum wir sie meiden sollten« und »Tollwütiger Grizzlybär, dein Freund und Helfer? Von wegen!«

Immer auf der Hut: Titanic

 Griaß Godd, baden-württembergisches Verkehrsministerium!

Ja, die schwäbische Tradition der Kehrwoche ist uns durchaus bekannt. Trotzdem wäre es uns lieber gewesen, Du hättest in Deiner Antwort auf die Anfrage des SPD-Landtagsabgeordneten Jan-Peter Röderer darauf verzichtet, eine »desolate Sauberkeit« der Toiletten der Deutschen Bahn zu bemängeln. Allein schon aus Gründen der Sprachhygiene.

Besticht durch desolate Genauigkeit: Titanic

 Excusez-nous, Emmanuel Macron!

Excusez-nous, Emmanuel Macron!

Als französischer Präsident und leidenschaftlicher Europäer ließen Sie es sich bei Ihrem Deutschlandbesuch nicht nehmen, sich Ungarns Staatschef Viktor Orbán und dessen Selbstbedienungsmentalität gegenüber der Europäischen Union vorzuknöpfen. »Unser Europa ist kein Supermarkt«, verkündeten Sie trotzig vor der Dresdner Frauenkirche und fanden mit Ihrem griffigen Sprachbild Anklang in der Sie fleißig zitierenden deutschen Presse.

Auch wir möchten Ihnen zu der eindeutigen Botschaft an Budapest gratulieren – und machen uns gleich los in Richtung Frankreich. Sich den Einkaufswagen vollzumachen und sogar Geld dafür zu bekommen: in Ihrem Land, Macron, versteht man wirklich was vom guten Leben! Fragt sich nur, wie es Ihre Bevölkerung angeblich trotzdem schafft, einen großen Teil ihres Einkommens für Lebensmittel auszugeben.

Es grüßt der Discounter unter den Satirezeitschriften: Titanic

 Du, Mey & Edlich,

preist ein sommerlich überteuertes Leinenhemd mit den Worten an: »Stellt bei Hitze keine Fragen.« Und bei Kälte? Wispert es da herbstlich aus der Achsel: »Könnte mal bitte jemand das Fenster schließen?« oder »Warum macht die Knopfleiste nicht einfach ihren Job, die faule Sau?« Wäre für uns das ganze Jahr ein Kaufargument!

Deine Modeflüster/innen von der Titanic

 Liebe britische Fallschirmspringer/innen!

Bei der diesjährigen D-Day-Gedenkfeier habt Ihr die Landung in der Normandie nachgestellt. Wegen des Brexits musstet Ihr aber direkt im Anschluss zur Passkontrolle. Danach erst ging’s weiter zur Feier.

Jetzt wollten wir mal ganz lieb fragen, ob Ihr angesichts des ganzen Rechtsrucks in Europa beim nächsten Mal dann wieder auf solche Formalitäten verzichten und stattdessen Nazis abknallen könnt?

Mit ganz großen Augen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Letzte Runde

Nach einer Woche Kneipentour hat mich die Katze zu Hause vor verendete Tatsachen gestellt.

Alexander Grupe

 Helmut Kohls Erbe

Endlich beginnen auch in unserem Viertel die Bauarbeiten für den Glasfaseranschluss. Bis es soweit ist, lässt die Leis ung des urzeitlich n Kupfe k bels a l rdi gs m hr de n je z wü sc n übr

Teresa Habild

 »This could have been Emaille«

Wenn mein Freund wieder einmal sein viel zu teures Porzellan-Geschirr auftischt.

Ronnie Zumbühl

 Ratschlag

Nach dem Essen, vor dem Paaren
niemals deinen Leib enthaaren!
Lieber schön beim Lakenfleddern
ineinander tief verheddern,
richtiggehend geil verstricken,
durch das Buschwerk nicht mehr blicken
und nach sieben langen Nächten
sorgsam auseinanderflechten.

Ella Carina Werner

 Bilden Sie mal einen Satz mit »Hinduismus«

Absprachen zur Kindbetreuung,
manchmal sind sie Schall und Rauch bloß.
Beide in der Hand die Klinke:
»Wo willst hin du? Is mus auch los!«

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
02.07.2024 München, Astor Kino Filmpremiere »Hallo Spencer – der Film«
17.07.2024 Singen, Gems Thomas Gsella
19.07.2024 Hohwacht, Sirenen-Festival Ella Carina Werner
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler