Meditation und Markt mit Dax Werner
Der Besuch
Dieses Momentum, wo der Kies in der Auffahrt unter fast abgefahrenen Sommerreifen vor sich hin knirscht und dann ein kleiner Junge in Anzug, Fliege und mit Rollkoffer aus der Beifahrertür steigt, irgendwas in sein Handy drückt und grußlos, dafür effizient, in Richtung meiner Haustür marschiert. Mein Neffe Gino (5) ist zum ersten Mal für ein ganzes Wochenende zu Besuch!
"Hey Buddy, DA ist aber jemand groß geworden!", begrüße ich ihn und wuschle dem Champion durch die Haare. Gino streckt mir sehr ernst die Hand entgegen: "Onkel Dax, schön, dass du es einrichten konntest!" Auf dem kurzen Weg durch den Flur ins Wohnzimmer schwärmt er von Blablacar, einem französischen Mitfahrdienst, den er auf dem Weg zu mir genutzt hat. "Ich sag's mal wie's ist, dieses Startup performt gerade nicht zu Unrecht aufs Abartigste, inzwischen in der fünften Investitionsrunde. In der Form in Deutschland gar nicht denkbar. Wo ist das Bad?"
Ich bin irritiert. Im Wohnzimmer angekommen, versuche ich es mit einem Klassiker der Kinder-Kommunikation: "Was willst Du denn mal werden, wenn du groß bist?" Gino schlägt die Beine übereinander und überlegt. Stand jetzt sei Frank Thelen da sicherlich ein Vorbild, auch Carsten Maschmeyer und Philipp Jessen sehe er als Macher, zu denen er aufschaut, aber apropos Träume: Ob ich eigentlich immer noch ernsthaft über zehn Jahre nach Burdas iconic turn 24/7 auf der Versager-Plattform Twitter grinde?
Na, der hat gesessen. Mir wird kurz ziemlich schwindelig und auch schlecht (gleichzeitig), ich muss mich refokussieren: Bin ich in einem Youtube-Prank gelandet? Warum und wann hat sich Gino in eine Art Turbo-Version vom jungen Christian Lindner (Stichwort Stern-TV) transformiert? Und warum liest er mein Twitter? Ich stottere irgendwas von Renaissance des geschriebenen Worts, Debattenkultur und konservativem Backlash, das Internet müsse doch zurückschlagen! Doch der Junge in meinem Wohnzimmer unterbricht mich schon wieder: Na ja, fährt er fort, wenn man, wie er, mit offenen Augen und open-minded durch die Kita gehe, spüre man doch sehr deutlich: Das Boot ist voll. Im Übrigen sei genau das am Dienstag Thema seiner Instagram-Story, da erkläre er das noch mal mithilfe des großen Lego-Piratenboots.
Ich atme zweimal tief ein, kärchere die Reste meines Bulletproof-Coffees in die Speiseröhre und schlage vor, sofort in den Zoo zu fahren. Am Kassenhäuschen besteht er darauf, den Eintritt selbst zu zahlen, weil sich (O-Ton Gino) "Leistung wieder lohnen muss". Dann erklärt er dem Mann an der Kasse, dass auch sein Arbeitsplatz in den nächsten fünf bis zehn Jahren verschwinden werde, "aber als Chance". Wir gehen dann doch nicht in den Zoo. Auf dem Weg nach Hause spreche ich ihn noch mal auf die Metapher mit dem vollen Boot von vorhin an und versuch es noch mal kumpelig: "Champion, ganz ehrlich: Die hat mich noch nicht ganz abgeholt." Gino entgegnet, dass ich doch jetzt bitte mal den Fuß von der Spaßbremse nehmen soll, am Ende des Tages seien Zuwanderer auch irgendwie dornige Deutsche und Multikulti als solches lehne er ja ohnehin nicht komplett ab, da war schon viel Schönes dabei vom Ansatz her. Ich spüre, wie kleine Schweißperlen meine Stirn hinabjagen, die Sonne paralysiert mich mit ihren Strahlen ins Auto rein und ich merke, wie ich die Kontrolle über mein Elektro-Auto verliere. Ein geisteskrank lauter Knall. Dann wache ich schweißgebadet auf: In der Auffahrt knirscht der Kies.